Und dennoch ist es Liebe
durch meine Adern, und ich erkannte, dass mir die ganze Zeit über ein wenig kalt gewesen sein musste. Dann war dieses Gefühl verflogen, und nichts blieb zurück. Das war doch, was ich mir gewünscht hatte, oder? Dass sie mich anerkannte, dass sie mich brauchte. Ich hatte zwanzig Jahre lang darauf gewartet. Und dennoch fehlte irgendetwas.
Meine Mutter sagte, sie wolle, dass ich blieb, aber ich war diejenige gewesen, die sie gefunden hatte, nicht umgekehrt. Wenn ich blieb, dann würde ich nie erfahren, was ich wirklich wissen wollte: Hätte sie je nach mir gesucht?
Sie stellte mich vor eine Wahl, eine simple Wahl. Wenn ich blieb, dann würde ich nicht mehr mit Nicholas und Max zusammen sein. Ich würde nicht bei Max sein, wenn er seinen ersten Baseball bekam, und ich würde nicht mit der Hand über Nicholas’ Büroschild streichen. Wenn ich blieb, dann würde das für immer sein, ich würde nie mehr nach Hause gehen.
Jetzt erst wurde mir wirklich klar, was die Worte, die ich mir seit meiner Ankunft immer und immer wieder gesagt hatte, wirklich bedeuteten. Ich musste wirklich wieder nach Hause zurück, auch wenn ich erst jetzt allmählich begann, daran zu glauben. »Ich muss wieder zurück«, sagte ich, und die Worte fielen wie eine Wand zwischen mich und meine Mutter.
Ich sah ein Funkeln in den Augen meiner Mutter, doch es verschwand so schnell, wie es gekommen war. »Du kannst nicht ungeschehen machen, was passiert ist, Paige«, sagte sie und straffte die Schultern, so wie auch ich es immer tat, wenn ich mich mit Nicholas stritt. »Die Menschen verzeihen, aber sie vergessen niemals. Ich habe einen Fehler gemacht, doch auch wenn ich wieder nach Chicago zurückgehen würde, würde er mir ewig nachhängen. Du würdest mir das immer wieder vorwerfen … so wie du es jetzt auch tust. Was, glaubst du, wird Nicholas tun? Und was Max, wenn er alt genug ist, um das zu verstehen?«
»Ich bin nicht vor ihnen weggelaufen«, erklärte ich stur. »Ich bin weggelaufen, um dich zu finden.«
»Du bist weggelaufen, weil du dich daran erinnern wolltest, dass du noch du selbst bist«, erwiderte meine Mutter und stieg aus dem Bett. »Sei ehrlich. Es geht nur um dich , nicht wahr?«
Sie ging ans Fenster und verdeckte das Licht, sodass ich beinahe vollkommen im Dunkeln lag. Also gut, ich war auf der Pferdefarm meiner Mutter, und wir hatten so einiges nachgeholt, und das war auch gut so, aber das war nicht der Grund, warum ich mein Heim verlassen hatte. In meinem Kopf war beides zwar miteinander verwoben, doch das eine hatte das andere nicht bedingt. Wie es auch sein mochte, dass ich von daheim weggelaufen war, hatte nicht nur mit mir zu tun. Vielleicht war es der Auslöser gewesen, aber allmählich sah ich ein, welche Kettenreaktion es in Gang gesetzt hatte und wie viele Menschen dadurch verletzt worden waren. Wenn mein Verschwinden bewirkte, dass meine Familie sich auflöste, dann musste ich mehr Macht besitzen und wichtiger sein, als mir klar gewesen war.
Wenn man sein Heim verlässt, betrifft das nie nur einen selber. Das war eine Lektion, die meine Mutter bis heute zu lernen hatte.
Ich stand auf und rauschte so plötzlich an ihr vorbei, dass sie vor Schreck gegen die Scheibe fiel. »Wie kommst du darauf, dass das einfach wäre?«, verlangte ich zu wissen. »Ja, man geht einfach weg – aber man lässt Menschen zurück. Man bringt sein eigenes Leben wieder in Ordnung – auf Kosten anderer. Ich habe dich gebraucht.« Ich beugte mich näher an sie heran. »Hast du dich eigentlich je gefragt, was du alles verpasst hast? Du weißt schon, all die kleinen Dinge: Du hättest mir beibringen können, wie man Mascara aufträgt, hättest bei meinen Schulaufführungen klatschen können und erleben, wie ich mich zum ersten Mal verliebe.«
Meine Mutter wandte sich von mir ab. »Ja, das hätte ich gerne gesehen«, sagte sie leise.
»Offenbar bekommt man nicht immer, was man will«, sagte ich. »Weißt du, dass ich mit sieben, acht Jahren einen gepackten Koffer im Schrank versteckt hatte? Ich habe dir zwei-, dreimal im Jahr geschrieben und dich angefleht, mich holen zu kommen, aber ich wusste nie, wohin ich die Briefe schicken sollte.«
»Ich hätte dich Patrick nicht weggenommen«, sagte meine Mutter. »Das wäre nicht fair gewesen.«
»Fair? Für wen?« Ich starrte sie an und fühlte mich so schlecht wie schon lange nicht mehr. »Was ist mit mir? Warum hast du mich nie gefragt? «
Meine Mutter seufzte. »Ich hätte es nicht übers
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