Und dennoch ist es Liebe
entfernt von ihrer Schulter, und er konnte ihre Halsschlagader pulsieren sehen. Doch dann riss er die Hand plötzlich wieder zurück und trat nach hinten. Die Luft zwischen ihnen war spannungsgeladen und schwer. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Wenn er sie berührte, würde alles wieder von vorne beginnen. Wenn er sie berührte, würde er ihr nicht mehr sagen können, was seit drei Monaten in ihm schwelte. Wenn er sie berührte, würde er ihr nicht mehr geben können, was sie verdiente.
»Nicholas«, sagte Paige, »gib mir nur fünf Minuten.«
Nicholas biss die Zähne zusammen. Es kam alles wieder zurück: die Wut, die er unter seiner Arbeit und der Sorge um Max begraben hatte. Paige konnte nicht einfach auftauchen, als wäre sie nur auf einem Wochenendtrip gewesen, und die liebende Mutter spielen. Nicholas war der Meinung, dass sie überhaupt kein Recht mehr hätte, hier zu sein. »Ich habe dir drei Monate gegeben«, sagte er. »Du kannst nicht einfach kommen und gehen, wie es dir gefällt, Paige. Wir sind auch ohne dich ganz gut zurechtgekommen.«
Paige hörte ihm nicht zu. Sie streckte die Hand aus, berührte den Rücken des Babys und strich dabei auch leicht über Nicholas’ Daumen. Er drehte sich so, dass sie Max, der wieder eingeschlafen war, nicht mehr erreichen konnte. »Fass ihn nicht an«, sagte er, und seine Augen funkelten. »Wenn du glaubst, dass ich dich einfach wieder reinlasse, damit du weitermachen kannst, als wäre nichts geschehen, dann hast du dich geschnitten. Du kommst nicht mehr in dieses Haus und auch nicht näher als dreißig Meter an dieses Baby heran.«
Wenn er sich entschloss, mit Paige zu reden, wenn er sie das Baby sehen ließ, dann nur unter seinen Bedingungen. Sollte sie doch eine Weile schmoren. Sollte sie ruhig sehen, wie machtlos sie auf einmal war. Seinetwegen konnte sie so unruhig schlafen, wie sie wollte, und nicht wissen, was das Morgen bringen würde.
Paige traten die Tränen in die Augen, und Nicholas zwang sich, nicht einen Muskel zu bewegen. »Das kannst du doch nicht tun«, sagte sie mit belegter Stimme.
Nicholas wich weit genug zurück, um nach der Tür greifen zu können. »Und ob ich das kann«, sagte er und schlug seiner Frau die Türe vor der Nase zu.
T EIL III
Entbindung
Herbst 1993
K APITEL 33
P AIGE
Die Haustür war über Nacht irgendwie größer geworden. Größer und vor allem dicker. Sie ist das größte Hindernis, das ich je gesehen habe. Manchmal konzentriere ich mich stundenlang auf sie und warte auf ein Wunder.
Es wäre fast komisch gewesen, wenn es nicht so wehtun würde. Vier Jahre lang war ich durch diese Tür gegangen, ohne weiter darüber nachzudenken. Und jetzt? Jetzt will ich zum ersten Mal durch diese Tür, ich habe mich selbst dazu entschlossen, und jetzt kann ich es nicht. Immer wieder denke ich: Sesam, öffne dich! Ich schließe die Augen und stelle mir den kleinen Flur vor, den chinesischen Schirmständer und den persischen Läufer. Ich habe es sogar mit Beten versucht. Doch das ändert nichts: Nicholas und Max sind auf der einen Seite dieser Tür, und ich stecke auf der anderen fest.
Wenn ich kann, lächele ich den Nachbarn zu, die vorbeikommen, aber ich bin sehr beschäftigt. So viel Konzentration braucht meine ganze Kraft. Stumm wiederhole ich Nicholas’ Namen und stelle ihn mir so lebhaft vor, dass ich schon glaube, ich könne ihn heraufbeschwören. Pure Magie! Und trotzdem passiert nichts. Nun, wenn es sein muss, werde ich ewig hier warten. Ich habe einen Entschluss gefasst. Ich will, dass mein Mann wieder Teil meines Lebens ist. Aber dafür muss ich erst einmal ein Loch in seiner Rüstung finden, damit ich wieder in sein Leben vordringen kann und wir zur Normalität zurückkehren können.
Ich finde es nicht seltsam, dass ich meinen rechten Arm dafür geben würde, wieder im Haus zu sein und Max beim Wachsen zusehen zu können. Ich will einfach nur die Dinge tun, die mich vor drei Monaten noch fast in den Wahnsinn getrieben haben. Ich will einfach nur wieder in die Rolle schlüpfen, für die ich nie gecastet worden bin – jedenfalls nicht, soweit ich mich erinnere. Jetzt bin ich aus freien Stücken wieder zurückgekehrt. Ich will Erdnussbutter auf Nicholas’ Hühnchen-Sandwiches streichen. Ich will Max Socken über die von der Sonne verbrannten Füße ziehen. Und ich will meine Malutensilien suchen und Bild auf Bild mit Kohle, Öl und Acryl malen und an die Wand hängen, bis jeder blasse Winkel dieses Hauses mit Farbe
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