Und dennoch ist es Liebe
Herz gebracht, dich zu so einer Wahl zu zwingen, Paige. Wir hätten alle nur verloren.«
»Jaja«, sagte ich verbittert, »mit dem Verlieren kenne ich mich aus.« Plötzlich war ich so müde, dass meine Wut verrauchte. Ich wollte einfach nur schlafen, monatelang, vielleicht sogar für Jahre. »Es gibt da einige Dinge«, sagte ich und ließ mich aufs Bett sinken. Meine Stimme klang ruhig und sachlich, und in einem Anflug von Mut hob ich den Blick und sah meine Seele aus ihrem Versteck fliegen. »Mit achtzehn hatte ich eine Abtreibung«, erklärte ich. »Du warst nicht da.«
Meine Mutter streckte die Hand nach mir aus und wurde kreidebleich. »Oh, Paige«, sagte sie, »du hättest doch zu mir kommen können.«
»Du hättest da sein sollen«, murmelte ich. Aber was hätte das schon für einen Unterschied gemacht? Meine Mutter hätte es als ihre Pflicht betrachtet, mir die Alternativen zu erklären. Sie hätte mir vielleicht vom besonderen Duft eines Babys erzählt oder mich an den Zauber zwischen Mutter und Tochter erinnert, den wir einst gemeinsam auf dem Küchentisch gewirkt hatten. Und vielleicht hätte meine Mutter mir auch die Dinge gesagt, die ich damals hätte hören wollen und die ich nun nicht mehr ertragen konnte.
Wenigstens hat mein Baby mich nie gekannt , dachte ich. Wenigstens habe ich ihr den Schmerz erspart.
Meine Mutter nahm mein Kinn. »Schau mich an, Paige. Du kannst nicht wieder zurückgehen. Du kannst nie mehr zurück.« Sie packte mich an den Schultern. »Du bist genau wie ich«, sagte sie.
War ich das? Ich hatte die vergangenen drei Monate damit verbracht, all diese simplen Dinge zu vergleichen: unsere Augen, unser Haar und auch die weniger offensichtlichen Eigenschaften wie die Neigung, wegzulaufen und sich zu verstecken. Aber es gab einige Eigenschaften, von denen ich nicht zugeben wollte, dass ich sie mit ihr teilte. Ich hatte ein Kind geschenkt bekommen und es zurückgelassen, weil ich schreckliche Angst davor gehabt hatte, dass die Verantwortungslosigkeit meiner Mutter erblich war. Ich hatte meine Familie verlassen und das dem Schicksal in die Schuhe geschoben. Jahrelang hatte ich mir eingeredet, dass ich alle Antworten erfahren würde, wenn es mir nur gelang, meine Mutter zu finden.
»Ich bin nicht wie du«, erklärte ich. Das war kein Vorwurf, sondern eine Feststellung gepaart mit Überraschung. Vielleicht hatte ich ja erwartet, wie sie zu sein, vielleicht hatte ich das sogar insgeheim gehofft. Doch nun würde ich mich nicht einfach hinlegen und es geschehen lassen. Diesmal würde ich mich wehren. Diesmal würde ich selbst entscheiden, in welche Richtung es ging. »Ich bin nicht wie du«, wiederholte ich, und ich spürte, wie sich mein Magen zusammenzog, denn jetzt hatte ich keine Entschuldigung mehr.
Ich stand auf und ging in dem Kleinmädchenzimmer herum. Ich wusste bereits, was ich tun würde. Ich hatte mich mein ganzes Leben lang gefragt, was ich falsch gemacht hatte, dass mich der eine Mensch, den ich über alles liebte, einfach so im Stich gelassen hatte. Diese Schuld würde ich Nicholas und Max nicht aufladen – niemals! Ich holte meine Unterwäsche aus der Kommode und stopfte meine dreckige Jeans in die Reisetasche, mit der ich gekommen war. Dann packte ich vorsichtig meine Zeichenkohle ein. Ich begann, mir den schnellsten Weg nach Hause zu überlegen, und ich zählte insgeheim die Stunden. »Wie kannst du mich überhaupt bitten zu bleiben?«, flüsterte ich.
Die Augen meiner Mutter funkelten wie die eines Pumas. Sie zitterte vor Anstrengung, die Tränen zurückzuhalten. »Sie werden dich nicht zurücknehmen«, sagte sie.
Ich starrte sie an, und langsam schlich sich ein Lächeln auf mein Gesicht. »Das hast du doch auch getan«, erwiderte ich.
K APITEL 32
N ICHOLAS
Max hatte seine erste Erkältung. Es war erstaunlich, dass er es überhaupt so lange ohne geschafft hatte. Der Kinderarzt hatte gesagt, das habe etwas mit Stillen und Antikörpern zu tun. Nicholas hatte in den vergangenen beiden Tagen kaum geschlafen; dabei waren das auch noch seine freien Tage. Hilflos saß er da und schaute zu, wie Max die Nase lief. Immer wieder schrubbte er den Inhalator und wünschte sich, er könne für seinen Sohn atmen.
Astrid war diejenige gewesen, die die Erkältung diagnostiziert hatte. Sie hatte Max zum Kinderarzt gebracht, weil sie geglaubt hatte, er habe ein Weidenkätzchen verschluckt, und sie wollte wissen, ob das giftig war. Doch als der Arzt Max abgehört und ein Rasseln in
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