Und dennoch
Versäumnisse beim Namen zu nennen. Die Rede wurde als Vorstoß zu einem wahrhaftigeren Umgang mit der Nazizeit empfunden. Seither gibt es in Deutschland ein anderes Selbstverständnis der Verantwortung zur historischen Aufarbeitung und Erinnerung – und diese Einsicht gehört auch im offiziellen Sprachgebrauch zur »politischen Correctness«. Selbst in Bayern, wo es über fünfzig Jahre gedauert hat, bis ein hiesiger Ministerpräsident zum ersten Mal das ehemalige Konzentrationslager in Dachau besuchte, bekennt man sich heute am 8. Mai offiziell zum Tag der Befreiung. Erinnern oder Vergessen: Darum ging es in der ganzen Nach-Hilter-Zeit. Erinnern, nicht um Unfrieden zu stiften, sondern um die Werte unserer Demokratie zu begründen und zu gestalten. Sie als Errungenschaft anzunehmen und nicht neuerlich zu gefährden.
Doch zurück zu den Anfängen: Damals, im Mai 1945, konnten wir natürlich nicht ermessen, was die Nach-Hitler-Zeit bringen würde und wie wir mit unserer Vergangenheit umgehen sollten. Unmittelbar nach Kriegsende war es noch ungewiss, ob Deutschland überhaupt eine Zukunft hatte. Der Morgenthau-Plan , der im September 1944 vom US-Finanzministerium entwickelt worden war und eine De-Industrialisierung sowie eine Umwandlung Deutschlands in ein Agrarland vorsah, wurde von den Amerikanern selbst schon sehr bald kategorisch negiert, jedoch wirkte er als Drohpotenzial weiter. Auch die Demontagen von Industrieanlagen vor allem in der sowjetisch besetzten Zone verhießen nichts Hoffnungsvolles. Erst der im Sommer 1947 von den Amerikanern angebotene Marshall-Plan und die erklärte Absicht, mit diesem Programm den Aufbau einer Demokratie und einer freien Wirtschaft für Westdeutschland zu fördern, erbrachten erste Lichtblicke. In den fünfziger Jahren haben die enormen Marshall-Plan-Hilfen in Milliardenhöhe entscheidend
zur raschen Erholung und damit zum weltweit bestaunten Wirtschaftswunder der Bundesrepublik beigetragen.
Anfangs hatten die alliierten Siegermächte strenge Maßnahmen zur Denazifizierung angeordnet, insbesondere die Kategorisierung, wer als unschuldig, Mitläufer oder schuldig anzusehen war. Letztere wurden inhaftiert und vor Gericht oder Spruchkammern gestellt. Ab Herbst 1945 begannen die Kriegsverbrecher-Prozesse in Nürnberg – später auch in Landsberg, die bei der Bevölkerung immer weniger Akzeptanz fanden, eher Animositäten gegen die »Sieger« weckten.
Nachträglich betrachtet war das Projekt »Entnazifizierung« von Anbeginn zum Scheitern verurteilt. 8,5 Millionen Deutsche waren bei Kriegsende Mitglied der NSDAP oder einer ihrer Unterorganisationen gewesen. Ungefähr dreizehn Millionen Deutsche mussten sich einer Fragebogenaktion und teilweise einem Spruchkammerverfahren unterziehen. Von ursprünglich rund 250 000 als »belastet« oder »minderbelastet« Eingestuften blieben nach ungezählten Revisionsverfahren und mit Hilfe von Abertausenden sogenannter Persilscheine am Ende nur noch ein Prozent Belastete übrig. Und auch die schafften es zumeist wieder, gesellschaftlich und beruflich einzusteigen, häufig sogar aufzusteigen. Ich habe einschlägige Bitten um Persilscheine nur zweimal, dann aber gern erfüllt, weil die Petenten Verfolgten geholfen hatten. Insgesamt wandelte sich die Nachkriegsgesellschaft Zug um Zug von einem besiegten zu einem sich selbst rehabilitierenden Volk von Unschuldslämmern.
Wie viele Opfer der NS-Terror gefordert hatte, wurde erst nach und nach bekannt. Heute wissen wir, dass es etwa sechs Millionen ermordete Juden waren, über 250 000 Menschen, die durch Euthanasie oder andere Verfolgungsmaßnahmen umgebracht wurden, rund drei Millionen getötete russische Kriegsgefangene, dazu unzählige Zivilisten, die in den von Deutschland besetzten Ländern ihr Leben verloren.
Rehabilitierung für »Entnazifizierungsgeschädigte«
An die Reaktion der Deutschen nach Bekanntwerden solcher Zahlen und Fakten kann ich mich noch gut erinnern: Offiziell wurde Betroffenheit bekundet, in Wirklichkeit jedoch reagierte man fast durchweg abwiegelnd bis achselzuckend. Man sprach von Siegerjustiz, Siegerpolitik oder Siegerwillkür. Erschütterungen und Schuldgefühle waren wenig spürbar. Von Ansätzen zu einer aufrichtigen Katharsis, auf die manche von uns gehofft hatten, kaum eine Spur. Kaum einer hatte etwas von Verbrechen gewusst, geschweige denn daran teilgehabt. Die meisten fühlten sich zu Unrecht beschuldigt und bald sogar selbst als Opfer.
Damals habe ich mich oft
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