Und dennoch
heutiges demokratisches Denken wurzelt, ist der Emanzipationsbegriff weiter gefasst worden, nämlich als Befreiung. Als Befreiung von Individuen oder Gruppen aus rechtlicher, politischer, sozialer oder psychischer Bevormundung, was so viel heißt wie Befähigung zur eigenständigen Urteilsbildung und Mündigkeit, zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung.
Genau das ist für die Zukunft angesagt! Männer sollen Frauen nicht nur als gleichberechtigt tolerieren, sondern sich als ebenbürtige Partnerinnen wünschen und die Bedeutung des Andersseins als Voraussetzung für ein menschenwürdiges Zusammenleben von Frauen und Männern anerkennen. Eine hierarchisch vorbestimmte Ordnung sollte im wechselseitigen Verhältnis von Männern und Frauen, sei es privat, politisch oder gesellschaftlich, ein für alle Mal ausgedient haben. Das ist ein lohnendes Ziel für weitere Emanzipationsprozesse und eine menschengerechtere Zukunft, die ich mir für die Generation meiner Kinder und Enkel sehr wünsche.
Im Januar 2009 hat die Regierungschefin Angela Merkel zum neunzigsten Jahrestag seit Einführung des Frauenstimmrechts rund zweihundert Frauen aus allen Generationen, von der
jüngsten Schulsprecherin bis zur dienstältesten Politikerin, zu sich ins Kanzleramt eingeladen. Es war für mich, die dienstälteste Politikerin, ein bewegender, ausgesprochen glücklicher Tag, wenn ich bedenke, wie schüchtern und noch wenig selbstbewusst wir nach 1945 waren, als die ersten Frauen im politischen Leben Einzug hielten. Heute sollten wir nicht selbstzufrieden sein, wohl aber zufrieden über das Erreichte und weiterhin entschlossen, uns noch mehr zu bewegen. Immer eingedenk dessen, wie es Heuss so oft formuliert hat, dass Demokratie keine Glücksversicherung ist, sondern das Ergebnis politischer Bildung und demokratischer Gesinnung. Auf beiden Feldern gibt es viel zu tun. Für Frauen und Männer, für Männer und Frauen.
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Weiße-Rose-Gedächtnis-Vorlesung: »Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit!«
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Über den wechselvollen Umgang mit den Erblasten der Nazi-Diktatur
Das Vermächtnis der Widerstandskämpfer
Die Entstehungsgeschichte unserer Demokratie auf den Trümmern einer menschenverachtenden Diktatur war alles andere als Erfolg versprechend. Das aber konnte kaum anders sein. Denn wie konnte Demokratie als Herrschaft des Volkes nach 1945 überhaupt funktionieren, nachdem sie 1933 kampf- und klaglos gescheitert war und sich das Volk freiwillig und total in ein vollkommen antidemokratisches Gewaltsystem verstrickt hatte? Bis zur letzten Minute hatte die Goebbelssche Hetzpropaganda den baldigen »Endsieg« vorgegaukelt und selbst Kinder für den Kampf um diesen missbraucht. So nahm die Katastrophe ihren Lauf – bis in den Untergang.
Die Aufarbeitung unserer düsteren NS-Vergangenheit wurde zur wohl herausforderndsten Bewährungsprobe der Nach-Hitler-Zeit. Dabei ging es nicht nur um die materielle Entschädigung ungezählter Opfer, sondern auch um Kenntnisse und Erkenntnisse, um Einsicht, Betroffenheit und Konsequenzen aus den schrecklichsten Gräueltaten, die von Deutschen und im deutschen Namen begangen worden waren. Das war das Vermächtnis, das ich mir zur Aufgabe gemacht hatte. Auch die Schriften aus und über den Widerstand verpflichteten mich immer von Neuem dazu. So hatte der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer in einem seiner letzten Briefe vor seiner Hinrichtung im April 1945 geschrieben:
Nur durch die Niederlage können wir Sühne leisten für die furchtbaren Verbrechen, die wir gegen Europa und die Welt begangen haben.
Und in einem der Moabiter Sonette, die der Geograph und Dichter Albrecht Haushofer nach seiner Inhaftierung 1944 verfasst hatte, machte er sich über unsere Erblast Gedanken:
Dass dieses Volk die Siege nicht ertrug –
die Mühlen Gottes haben schnell gemahlen.
Wie furchtbar muss es nun den Rausch bezahlen.
Es war so hart, als es die anderen schlug,
so taub für seiner Opfer Todesqualen.
Wie mag es nun das Opfer-Sein ertragen?
Und schließlich sind da die Appelle aus den Flugblättern der Weißen Rose. Im fünften Flugblatt vom Januar 1943 heißt es:
Zerreißt den Mantel der Gleichgültigkeit, den Ihr um Euer Herz gelegt!
Entscheidet Euch, eh’ es zu spät ist!
Und im vierten Flugblatt vom Juli 1942 steht:
Aber aus Liebe zu kommenden Generationen muss nach Beendigung des Krieges ein Exempel statuiert werden, dass niemand auch nur die geringste Lust je verspüren sollte, Ähnliches
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