Und dennoch
aufs neue zu versuchen.
Eine desolate Ausgangssituation
Es ist gut, dass es solche und andere Texte gibt, die wir in Erinnerung behalten sollten. Damit ehren wir nicht nur die Deutschen, die ihr Leben für ein nazifreies und humanes Deutschland geopfert haben, sondern bleiben ihnen und ihrem Vermächtnis verpflichtet. Sie haben uns die Botschaft hinterlassen, ein Exempel zu statuieren und aus Liebe zu kommenden Generationen Sühne zu leisten. Dazu aber fehlten uns nach Kriegsende sowohl der Wille als auch die Voraussetzungen. Wo sollten überzeugte und erprobte Demokraten herkommen, nachdem Hitler zwölf Jahre Demokratie als »jüdische Erfindung« denunziert und verächtlich gemacht hatte und Demokraten aller Parteien verfolgen ließ? Die wenigen übrig gebliebenen
Weimaraner waren reichlich alt. Die aktiven Gegner der Nazis hatte man an Fleischerhaken stranguliert, in die Emigration gejagt oder in den KZs zu Tode gequält. Desgleichen fehlten die ungezählten jungen Menschen meiner Generation, die keine Nationalsozialisten gewesen und in den Krieg gezwungen worden waren und dort sinnlos ihr Leben »für Führer und Vaterland« verloren hatten. Und schließlich waren auch von denen, die nicht im Krieg gefallen waren, nicht wenige dauerhaft von der nationalsozialistischen Ideologie indoktriniert.
Wer also wollte und konnte das ganze Ausmaß des Unheils ermessen und daraus nachhaltige Konsequenzen ziehen, Exempel statuieren und Sühne leisten? Wer würde sich im Sinne der Widerstandskämpfer für ein an Haupt und Gliedern erneuertes, demokratisches Deutschland engagieren? Es waren viel zu wenige, die das leisten konnten, und so war es nicht überraschend, dass die Demokratie nach 1945 nicht gerade der Wunschtraum der besiegten Deutschen war. Das hatte sicher auch damit zu tun, dass sie 1945 beinahe schockartig mit dem Zusammenbruch der NS-Diktatur und ihren immensen Erblasten konfrontiert wurden. Aus eigenem Vermögen hatten sie sich vom braunen Terror ja nicht befreien können, wie das fehlgeschlagene Attentat des 20. Juli 1944 und andere Widerstandsversuche erwiesen hatten. Vielleicht hatten sie sich auch gar nicht befreien wollen, und so blieb nur noch die Befreiung durch die Siegermächte, also die totale Niederlage und Besetzung Deutschlands.
Alles war 1945 zusammengebrochen, und der Traum von der Weltherrschaft zum schrecklichsten aller Albträume geworden: Deutschland war besiegt, zerstört und gevierteilt und wurde kollektiv der schändlichsten Untaten angeklagt, des Völkermords, der Kriegs- und Menschenrechtsverbrechen. So kam es, dass nach der ersten Erleichterung und Freude über das Kriegsende alsbald ein Katzenjammer unterschiedlichster Ausprägung entstand, vor allem über das eigene Schicksal. Die Menschen flüchteten in Selbstmitleid und Unschuldsbeteuerungen – von Mitverantwortung oder gar Wiedergutmachung wollten sie kaum
etwas wissen und von der Politik der Besatzer schon gar nichts. Demokratie galt überwiegend als Oktroi der Siegermächte und wurde nur mit mehr oder weniger Skepsis aufgenommen. Man hielt sie für Deutsche als »nicht artgemäß«. So erinnere ich es aus ungezählten Anfangsdiskussionen. Noch Mitte der fünfziger Jahre, also zehn Jahre nach Kriegsende, befanden bei einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Allensbach 55 Prozent der Interviewten, der Nationalsozialismus sei eine »gute Idee« gewesen, die lediglich »schlecht ausgeführt« wurde. Nur die wenigsten kannten Namen von Widerstandskämpfern, ihre Schriften und Ziele ohnehin nicht.
Auch die Einsicht in das entsetzliche Leid und Unheil, das Deutschland und Deutsche über die Welt gebracht hatten, stellte sich nicht ein, oder nur in kleinen Kreisen. Von Emotionen, von Wut auf die Nazis, von denen die Deutschen eigentlich hätten erfüllt sein müssen, war wenig zu spüren. Ich weiß noch gut, wie wenig Resonanz, geschweige denn Zustimmung das sogenannte Stuttgarter Schuldbekenntnis der Evangelischen Kirche Ende 1945 in unseren Gemeinden fand, obgleich es noch vergleichsweise milde formuliert war:
Wohl haben wir lange Jahr hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.
Statt um die eigene Mitschuld als Mitläufer kümmerten sich zahlreiche Kirchenrepräsentanten
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