Und dennoch
hingebungsvoll um verurteilte Kriegsverbrecher. Noch heute wird die mangelnde Bereitschaft des deutschen Protestantismus für Schuldanerkenntnis und Sühnebereitschaft kontrovers diskutiert.
Ich erlebte die wachsende Tendenz des Beschweigens und der Abwehr jedweder Verantwortungsübernahme als eine Entwicklung, die nach der Gründung der Bundesrepublik 1949 zu einem brisanten Politikum wurde und die Jahre der Nach-Hitler-Zeit
überschattete. Historiker wie Norbert Frei oder Heiko Buschke nannten dies später »Vergangenheitspolitik«, und es war eine Art politischer Eiertanz um die Konsequenzen aus der NS-Zeit. Bei mir überwogen Zorn und Enttäuschung.
Eine Stunde null in dem Sinne, dass alle Deutschen guten Willens an einer radikalen politischen und gesellschaftlichen Umkehr und Erneuerung teilhaben, hat es nach meinem Erleben nicht gegeben. Die meisten hatten das Kriegsende nicht als Befreiung, sondern als Niederlage empfunden. Demzufolge schwelte die Kontroverse, ob die Deutschen am 8. Mai 1945 nun »besiegt« oder »befreit« worden seien, jahrzehntelang und wurde zu einem strittigen Thema: Wir seien »erlöst und vernichtet zugleich« gewesen, so hatte es Theodor Heuss salomonisch formuliert. Ich fühlte mich nur erlöst und habe das nie anders empfunden und daraus keinen Hehl gemacht. Deshalb wurden die Sieger für mich zu Befreiern, von denen ich nicht nur Beistand bei der Auseinandersetzung mit den Nazi-Repräsentanten erhoffte, sondern vor allem auch Hilfe für die Überlebenden des Holocaust, des Widerstands und der sozialen Verfolgungen, etwa der Zwangssterilisierten oder der Homosexuellen. Auch diese Rehabilitierungen hätten wir nach 1945 nicht aus eigener Kraft geschafft, desgleichen jedwede Art wirksamer Entnazifizierung.
Gegen das Vergessen
Es war ein langer, nicht immer erfreulicher Weg, bis uns all dies bewusster wurde. Dass er jedoch so schwierig und langwierig werden würde, ahnte ich nicht. Mir persönlich wurde er bewusst, als Theodor Heuss, unser erster Bundespräsident, wenige Wochen nach seiner Wahl am 7. Dezember 1949 in Wiesbaden vor der neu gegründeten Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit versuchte, die Öffentlichkeit wachzurütteln. Er machte sich Sorgen, da er die Tendenz zum Verdrängen und Vergessen schon damals erkannte:
Wir dürfen nicht einfach vergessen, dürfen auch nicht Dinge vergessen, die die Menschen gerne vergessen möchten, weil das so angenehm ist. Wir dürfen nicht vergessen die Nürnberger Gesetze, den Judenstern, die Synagogenbrände, den Abtransport von jüdischen Menschen in die Fremde, in das Unglück, in den Tod. Das sind Tatbestände, die wir nicht vergessen sollen, die wir nicht vergessen dürfen, weil wir es uns nicht bequem machen dürfen.
So hielt er es auch während seiner zehnjährigen Präsidentschaft. Er redete nicht um die Dinge herum und machte es sich nicht bequem: Anlässlich der zehnten Wiederkehr des Attentats vom 20. Juli 1944 sprach er als erster hochrangiger deutscher Politiker im Auditorium maximum der Freien Universität Berlin darüber, dass wir »nicht verhindern können, dass in Hinterzimmern diese oder jene Schmährede das Gedächtnis an diese Männer trüben könne …«. Heuss schloss seine Rede eindringlich: »Das Vermächtnis ist noch in Wirksamkeit, die Verpflichtung noch nicht eingelöst.«
Aber der Konflikt schwelte weiter. In der Realität wurden die »Schmähreden« von der sich bereits damals neuerlich formierenden Rechten nicht nur in Hinterzimmern gehalten, sondern ganz öffentlich und lautstark!
Erst 1985, zum vierzigsten Jahrestag des Kriegsendes, hat der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker in einer wirklich historischen Rede im Plenarsaal des Deutschen Bundestags unmissverständlich und wiederholt den 8. Mai 1945 als »Tag der Befreiung« beschworen und an die Notwendigkeit fortdauernder Erinnerung gemahnt:
Erinnern, das heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, dass es zu einem Teil des eigenen Innern wird. Das stellt große Anforderungen an unsere Wahrhaftigkeit … Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.
Weizsäckers Rede wirkte damals wie eine zweite Befreiung, wie eine Enttabuisierung – und sie wirkte weltweit. Endlich hatte ein deutscher Staatsmann die rechten Worte gefunden, um Verkrampfungen zu lösen und
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