Und dennoch
kreative und unermüdliche Egon Bahr als Wandel durch Annäherung definierte. Beides war ein Wagnis, beides war überfällig. Beides wurde kein einfacher Siegeszug, aber immerhin ein Aufbruch aus der konservativen Stagnation. Dabei war ich nicht mehr als ein Rädchen im großen Getriebe. Als nunmehr Staatssekretärin im Bundesbildungsministerium bastelte ich 1970 an einem Bildungsgesamtplan für Bund und Länder, der bis 2002 in Archiven verstaubte, um anlässlich des PISA-Schocks mit fast dreißigjähriger Verspätung wiederentdeckt zu werden (siehe Kapitel 6).
Ein wesentlicher Anstoß für die neue Ostpolitik war 1965 von der Evangelischen Kirche mit einer Denkschrift zur Vertriebenenfrage und der Anerkennungsproblematik der Oder-Neiße-Grenze mit Polen gekommen. Nun fingen auch die Parteien an, sich mit dieser Frage öffentlich auseinanderzusetzen. Auf dem achtzehnten Bundesparteitag der FDP 1967 in Hannover brachen Hans Wolfgang Rubin, ein beherzter und couragierter Sozialliberaler, und ich das Tabu und forderten eine Kurskorrektur und Neuorientierung der deutschen Polenpolitik. Wenige Wochen vor dem Parteitag hatte ich zum ersten Mal Polen besucht, weil ich einen Bericht über das dortige Schulsystem verfassen wollte. Dabei war mir bewusst geworden, dass das Verhältnis zu diesem Land neben dem zu Israel der schwierigste Prüfstein für die Bundesrepublik sein würde, was den Umgang mit erklärten früheren Feinden und Opfern von Hitlers Rassen- und Unterdrückungspolitik betraf. Die Stunde der Wahrheit, so hieß nicht nur die aufrüttelnde Schrift
von Rubin, in dem er in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift liberal schon im März seine innen- und außenpolitischen Reformvorschläge zusammenfasste, sondern auch der nachfolgende innerparteiliche Aufbruch der FDP. Die profilierte sich mit einem neuartigen sozialliberalen Programm, den Freiburger Thesen , die im Oktober 1971 auf dem Bundesparteitag in Freiburg verabschiedet wurden. Zuvor hatte schon ein Vorsitzwechsel stattgefunden: Der standesbewusste, politisch rechts stehende Ritterkreuzträger Erich Mende kandidierte 1968 nicht mehr, gewählt wurde der offen-heitere Walter Scheel.
Aber nicht alle FDP-Abgeordneten sahen diese Entwicklung als positiv an und wollten die neue Politik mittragen. Einige traten zur CDU über und schwächten die ohnehin knappe Mehrheit der 1969 zustande gekommenen sozialliberalen Koalition. Nach zwanzig Jahren Bundesrepublik stellten die Unionsparteien nun erstmals nicht mehr die Mehrheit. Die Wähler wollten jedoch diese Koalition, und im Wahlkampf 1972, der engagierter geführt wurde als je einer zuvor und danach, entstand ein neues Verhältnis zwischen Bürgern und Politikern. Zum ersten Mal trugen Wähler und Sympathisanten Buttons mit der Aufschrift »Willy wählen«, und die FDP-Anhänger outeten sich mit dem Slogan: »Unser Willy heißt Walter«. Der Wahlerfolg 1972 war sensationell, und danach hatte die sozialliberale Koalition endlich einen esten Rückhalt für ihre Reformpolitik.
Die Gezeiten der sozialliberalen Koalition
Irgendwie erfand sich die Bundesrepublik damals neu, und ich gehörte von Anfang bis Ende der sozialliberalen Ära zu ihren überzeugten Mitstreitern. Jetzt begann meine nächste Bewährung, diesmal als Regierungsmitglied der Koalition, das ich mit einer Unterbrechung bis zu ihrem Ende 1982 blieb. Es war meine beste, befriedigendste und erfolgreichste Zeit. Beide Kanzler, Willy Brandt und Helmut Schmidt, waren mir und meiner Arbeit
gewogen, und die Politik der außenpolitischen Entspannung und der gesellschaftlichen Reformen entsprach meinen Überzeugungen.
Als Willy Brandt am 7. Dezember 1970 vor dem Mahnmal für die Opfer des Aufstands im Warschauer Ghetto kniete, zum Zeichen der Bereitschaft zur Aussöhnung, wurde ein neues Kapitel im Buch der Geschichte der Nach-Hitler-Zeit aufgeschlagen, das zu guter Letzt zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas führte. Doch bis dahin traten noch viele Turbulenzen und eine handfeste Krise auf, als Brandts persönlicher Referent Günter Guillaume als Spitzel der DDR enttarnt wurde und Brandt 1974 zurücktreten musste.
Es gab den Radikalenerlass, mit dem seit 1972 Linksextremisten aus dem öffentlichen Dienst ferngehalten werden sollten. Es kam zur Eskalation von Gewalt, die Rote Armee Fraktion (RAF) entführte und mordete. Es waren die unruhigsten Zeiten in der Geschichte der Bundesrepublik, aber sie festigten nicht nur bei mir das, was wir
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