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Und dennoch

Und dennoch

Titel: Und dennoch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hildegard Hamm-Bruecher
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Volksvertreter – eine Legende?
    Für mich war die gescheiterte Parlamentsreform jedoch mehr als nur ein Misserfolg, nämlich eine große Enttäuschung, die ich bis heute nicht weggesteckt habe. »Wegstecken« kann auf
Dauer zu Selbstentfremdung und Abstumpfung führen, dennoch hat ein Politiker, der erfolgreich sein will, genau dies als erste Lektion zu verinnerlichen. Ich habe es in all den Jahren nicht ausreichend gelernt, trotz des oft zitierten Gebets, das angeblich von dem württembergischen Theologen Friedrich Christoph Oetinger stammt, der im 18. Jahrhundert lebte: »Herr, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.«
    Meine Enttäuschung kam aus meinem grundsätzlichen Demokratieverständnis: Ein Parlament, das über Gott und die Welt debattiert, nur nicht über sich selbst, ein Parlament, das anderen Reformen vorgibt, aber für die eigene Arbeit keine auf den Weg bringt, ist ein schlechtes Vorbild für Bürgerinnen und Bürger, denen es genau dies abverlangt. Und Vorbildcharakter sollte eine Volksvertretung schon haben, sonst verliert sie an Respekt und Ansehen. Heute versucht der amtierende Präsident Norbert Lammert das eine oder andere im Parlamentsbetrieb zu verbessern, aber es prallt zumeist an der Bequemlichkeit des Apparats und der rigiden Fraktionsführungen ab.
    Die wichtigsten Baustellen im Ablauf der parlamentarischen Arbeit betreffen heute aus meiner Sicht das Kontroll- und freie Rederecht, beide müssten zugunsten der Abgeordneten gestärkt werden. Auch das Petitionsrecht für Bürger müsste ausgebaut werden, um die Möglichkeit zu schaffen, zentrale Anliegen der Bürger im Plenum des Bundestags zur Entscheidung zu bringen. Allerdings stelle ich mit wachsender Besorgnis fest, dass es trotz aller alarmierenden Erkenntnisse über den Glaubwürdigkeitsverlust der Volksvertretungen keine Anzeichen für einen neuen Anlauf in Sachen Parlamentsreform gibt. Die zunehmende Verdrossenheit einer Mehrheit der Bürger ist leider zum ständigen Begleiter unserer Demokratie geworden. Es müsste den Verantwortlichen im Staat und in den Parteien eigentlich zu denken gegeben haben, wie überwältigend die Zustimmung war, die Joachim Gauck, der Kandidat der Opposition 2010 bei den letzten
Bundespräsidentenwahlen, innerhalb kürzester Zeit gefunden hat — und zwar deshalb, weil er etwas verkörperte, was von den Bürgern im heutigen parteipolitisch dominierten Leben so schmerzlich vermisst wird: Glaubwürdigkeit. Sein demokratisches Engagement verbanden viele von uns mit der Hoffnung, dass es vielleicht doch noch zu einer Re-Vision unserer Verfassungswirklichkeit kommen könnte. Der dritte Wahlgang der Bundesversammlung entschied jedoch, dass es nicht so sein sollte.
    Im Jahr 2011 ist unsere Staatsform Demokratie in keiner guten Verfassung. Das Ansehen der Politiker nimmt weiter ab, desgleichen die Hoffnung auf Reformfähigkeit in eigener Sache. Wie sagte doch einst Theodor Heuss: Politik ist keine Glücksversicherung, sondern das Ergebnis politischer Bildung und demokratischer Gesinnung. Um unserer demokratischen Zukunft willen wünsche ich mir mehr von beidem.
    Prüfstein Mauerfall und Vereinigung
    1989 brachte den Mauerfall und die Wiedervereinigung Deutschlands. Dies noch als Bundestagsabgeordnete erleben zu dürfen, wurde zum Höhepunkt und Finale meines aktiven politischen Lebens. Es war ja reiner Zufall gewesen, wo man 1945 seinen Wohnsitz hatte, ob man Ossi oder Wessi wurde und welches Schicksal dann damit verbunden war. Ich habe das nie vergessen und fühlte mich persönlich gegenüber DDR-Deutschen immer in einer Art Bringschuld. Wie hätte ich, wie hätten wir Wessis dieses SED-Regime ertragen? Wie uns politisch und gesellschaftlich orientiert beziehungsweise arrangiert? Hätten wir uns friedlich selbst befreit?
    Über vierzig Jahre wussten West- und Ostdeutsche wenig voneinander. Auf beiden Seiten wucherten Klischees, wurde Schwarz-Weiß-Malerei betrieben. Man züchtete Antipathien heran, und über die Jahrzehnte kam es zu einer wachsenden Entfremdung. In der Bundesrepublik gab es den rasanten Wiederaufbau
und im Gefolge des Kalten Ost-West-Krieges politische Restauration. Die westlichen Alliierten brauchten uns und drückten gegenüber dem Trend der unaufgearbeiteten Vergangenheit und des Verdrängens mehr als ein Auge zu. In der DDR wurde — nolens volens —

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