Und dennoch
später Verfassungspatriotismus nannten: nämlich ein wachsendes Zugehörigkeitsgefühl zu unserem demokratischen Rechtsstaat und seinen Grundrechten. Sie begründeten meine Identifikation mit unserem Land.
1976 wurde ich Staatsministerin im Auswärtigen Amt, und da ich Außenminister Hans-Dietrich Genscher bei Kabinettssitzungen vertreten musste, wenn dieser auf Reisen war — was oft geschah –, lernte ich die Führungs- und Verantwortungsstärke von Bundeskanzler Helmut Schmidt sehr genau kennen und bewundern. Bei der Entführung von Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer gelang es ihm, nicht nur die Opposition in die vom Krisenstab getroffenen Entscheidungen einzubinden, sondern auch standhaft zu bleiben und die Krise zu bewältigen, ohne dass sich die Regierung erpressbar zeigte.
Meine Bewunderung und Hochachtung für Schmidt rührt aus dieser Zeit, und damit bin ich bei einer weiteren Herausforderung und persönlichen Bewährung von grundsätzlicher Bedeutung. Es handelt sich dabei um den »konspirativen Koalitionswechsel«
im September 1982, der von der FDP in Form eines konstruktiven Misstrauensantrags gegen Schmidt geschmiedet wurde. Daran wollte ich mich nicht beteiligen. Noch im Wahlkampf 1980 hatte die FDP den Wählern eine Fortsetzung der Koalition Schmidt/Genscher versprochen, ein Versprechen, das sie nun Mitte 1982, ohne neuerliches Wählervotum, brechen wollte. Seit einiger Zeit hatte sich eine wirtschafts- und finanzpolitische Rezession bemerkbar gemacht, über deren Bekämpfung die Koalitionsparteien unterschiedlicher Meinungen waren. Zudem drohte dem Kanzler, dass ihn seine Partei in der Frage des NATO-Doppelbeschlusses vom Dezember 1979 nicht weiter unterstützen würde. Der sogenannte Doppelbeschluss hätte eine atomare Nachrüstung des Nordatlantikpakts zur Folge gehabt, falls die Sowjetunion nicht bereit gewesen wäre, ihre vehemente Aufrüstung einzustellen.
In der Bundesrepublik hatte sich bereits seit Ende der siebziger Jahre eine Friedensbewegung als außerparlamentarische Opposition zusammengeschlossen, die die Koalitionsparteien durch machtvolle Demonstrationen ins Wanken bringen wollte. Zudem ließ die Sozialdemokratische Partei ihren Kanzler spürbar im Stich, während seine Fraktion ihm neuerlich das Vertrauen ausgesprochen hatte. Da sah die FDP-Führung Mitte 1982 die Zeit für den Absprung von den Sozialdemokraten gekommen (siehe Kapitel 7).
Vor der Sommerpause war in der FDP-Bundestagsfraktion zwar noch keine Mehrheit für das Misstrauensvotum vorhanden, bis in den Herbst hinein gelang es aber den Befürwortern, eine Mehrheit der liberalen Abgeordneten für den Wechsel zu überzeugen beziehungsweise zu überreden. Etwa ein Drittel der FDP-Fraktion war ohnehin nie ein Anhänger der sozialliberalen Koalition gewesen, ein knappes weiteres Drittel der Abgeordneten wollte die Koalition fortsetzen, alle Übrigen schwankten mit ihrer Entscheidung.
Der Rest ist bekannt: Das konstruktive Misstrauensvotum am 1. Oktober 1982 hatte Erfolg, Helmut Kohl wurde zum Kanzler
gewählt. Die mündliche Begründung (siehe Text im Anhang) für mein ablehnendes Votum gemäß Artikel 38 Absatz 1 des Grundgesetzes, nach dem ich als Abgeordnete nicht an »Aufträge und Weisungen« gebunden, sondern nur meinem Gewissen unterworfen bin, erregte Aufsehen und hatte einen innerparteilichen Bruch samt »Strafvollzug« zur Folge. Ich verlor alle politischen Ämter und wurde von da an in der Fraktion systematisch ausgegrenzt. Das hieß: Ich wurde von Informationen und Entscheidungen ausgeschlossen. Aber ich blieb Mitglied der Partei, anders als viele Gleichgesinnte, die ausgetreten waren. Mein Votum brachte mir aber auch, abgesehen von dem guten Gefühl, dem Gebot des Grundgesetzes gefolgt und mit mir im Reinen zu sein, viel Anerkennung in der Öffentlichkeit. Die Frage des Fraktionszwangs für Abgeordnete trotz des Verfassungsgebotes blieb auf der Tagesordnung und ist nach wie vor ein Ärgernis für das Ansehen des Parlaments. Eine kleine Streitschrift mit dem Titel Der Politiker und sein Gewissen , in der ich mir meine Erfahrungen von der Seele schrieb, erlebte drei Auflagen.
Der 1. Oktober 1982 war das Ende der sozialliberalen Koalition, die so hoffnungsvoll begonnen, so viel erreicht hatte und doch so kläglich endete. Im Grunde hat sich die FDP nie davon erholt.
Die Parlamentsreform und die Debatten über das Selbstverständnis der Volksvertreter
Da ich von der Fraktion zunächst keine Aufgabe
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