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Und dennoch

Und dennoch

Titel: Und dennoch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hildegard Hamm-Bruecher
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erhielt, suchte ich mir ein neues Arbeitsfeld: die Parlamentsreform . Demokratiepolitisch wurde es das für mich bedeutsamste, aber auch erfolgloseste Engagement. Es war ein sechsjähriger Versuch, mit Mitstreitern aus allen Fraktionen — bis auf die CSU — eine umfassende, leider weitgehend vergebliche Parlamentsreform auf den Weg zu bringen und darüber hinaus Initiativen zur Stärkung der Bürgergesellschaft als zweite Dimension der Demokratie zu fördern.

    Heute weiß ich mehr denn je, wie wichtig es für das Ansehen der parlamentarischen Demokratie wäre, mit dem Gebot des Artikel 38 auch in der parlamentarischen Praxis Glaubwürdigkeit zu beweisen. Thomas Dehler hatte im Parlamentarischen Rat einst gesagt, dass »Gewissensfreiheit die Grundlage der Demokratie ist und daher unverzichtbar« sei. Nur mit der Achtung vor der Gewissensfreiheit, davon bin ich überzeugt, kann für die parlamentarische Demokratie, die bei immer mehr Bürgern an Glaubwürdigkeit verloren hat, Vertrauen zurückgewonnen werden.
    Für mich persönlich hatte das vertiefte Nachdenken über die Verfassungsgebote und die entgegenwirkenden Zwänge der eigenen Geschäftsordnung eine nachhaltige Konsequenz: Ich wollte infolge meiner Erfahrung in der parlamentarischen Praxis eine Reform auf den Weg bringen mit dem Ziel, Rechte und Pflichten des Abgeordneten glaubwürdiger zu gestalten. Deshalb entwarf ich zunächst einen Fragebogen für Kollegen in allen Fraktionen über ihr Selbstverständnis als Abgeordnete und über die Beurteilung ihrer Positionen und ihrer Einflussmöglichkeiten.
    Etwa 30 Prozent derjenigen, denen ich den Fragebogen geschickt hatte, antworteten interessiert, und so kam es zu einer Zusammenarbeit unter dem Titel Interfraktionelle Initiative Parlamentsreform , deren Sprecherin ich 1984 wurde und bis 1990 blieb. Wir, die Initiatoren, forderten, was es zuvor noch nie gegeben hatte und was seither bis heute nie wieder stattfand: eine Selbstverständnisdebatte über die Arbeit als Abgeordnete des Bundestags. Es war ein Vorschlag, den der damalige Präsident des Bundestags, Rainer Barzel, unterstützte. Auch er fühlte sich von der Regierung gegängelt. Eine große Debatte zu diesem Thema fand am 20. September 1984 statt und dauerte ungefähr fünf Stunden. Sie war frei, das heißt durch die Fraktionsführungen nicht reglementiert. Am Ende wurde eine Kommission unter dem Vorsitz des Bundestagspräsidenten zur Beratung unserer Anträge beschlossen. Das erschien uns als ein großer Erfolg, und es wäre auch einer gewesen, wenn Barzel nicht wenige Wochen später wegen finanzieller Verwicklungen in der Flick-Parteispendenaffäre
hätte zurücktreten müssen, die sich zu einem der größten Skandale der Bundesrepublik ausgewachsen hatte. Liest man die Protokolle der damaligen Selbstverständnisdebatte heute nach, dann sind es Dokumente der Nachdenklichkeit und der Bereitschaft, sich in eigener Sache selbstkritisch zu Wort zu melden und für Änderungen zu plädieren.
    Barzels Nachfolger, Philipp Jenninger , konnte zunächst nicht sehr viel mit dem Thema Parlamentsreform anfangen, wandelte sich aber im Laufe der Zeit zu einem mehr oder weniger vorsichtigen Sympathisanten unserer Ziele. Leider musste auch er später zurücktreten, weil er sich 1988 in seiner Funktion als Bundestagspräsident in einer Gedenkrede zum 50. Jahrestag der Novemberpogrome 1938 sehr missverständlich ausgedrückt hatte. Ich habe das damals sehr bedauert.
    Auf Jenninger folgte Rita Süssmuth. Sie war uns zwar gewogen, und ich schätzte sie sehr, sie konnte sich aber in der eigenen Fraktion nicht durchsetzen. Ihr fehlte eine »Hausmacht«. Deshalb wurde die Kommission nicht länger mit der Weiterarbeit an unseren Anträgen betraut. Sie wurden dem Geschäftsordnungsausschuss überantwortet, in dem sie so gut wie keine Unterstützung mehr fanden.
    Vor meinem Ausscheiden aus dem Bundestag 1990 hielt ich noch eine Abschlussrede, in der ich meine Desillusionierung zum Ausdruck brachte, denn fast alle Bemühungen unserer Initiative zur Parlamentsreform waren praktisch vom Tisch. Auch deshalb, weil wichtige Mitstreiter wie Kurt Biedenkopf, Peter Glotz, Alois Graf von Waldburg-Zeil oder Liesel Hartenstein nun ebenfalls nicht mehr im Bundestag waren. Von außen konnten wir nichts mehr bewegen. Einmal gab Rita Süssmuth uns noch ein nettes Abendessen, damit hatte es sich dann. Was blieb, ist eine Taschenbuch-Dokumentation sämtlicher Aktivitäten mit dem Titel: Der freie

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