Und der Herr sei ihnen gnädig
doch.«
Decker tat wie ihm geheißen. Das Sofa mit der steifen Rückenlehne war sehr unbequem. Mithilfe von ein paar Kissen gelang es Rina, eine erträgliche Sitzposition zu finden. Anika schenkte ihnen Tee ein und ließ sich in kerzengerader Haltung auf der Vorderkante eines Sessels nieder. Vielleicht war die Steife kulturbedingt.
Rina nahm einen Schluck Tee. »Danke, dass Sie sich Zeit für uns nehmen.«
»Danke, dass Sie sich mit uns in Verbindung gesetzt haben. Ich muss sagen, dass ich anfangs sehr erschrocken war. Wer rechnet schon damit, von siebzig Jahre alten Geistern zu hören? So lange ist es her, dass ich Ihre Mutter zum letzten Mal gesehen habe.«
»Ich kann mir gut vorstellen, dass Sie überrascht waren.«
»Sehr überrascht.« Sie schenkte sich selbst auch eine Tasse Tee ein. »Dadurch sind bei mir Erinnerungen hochgekommen, die tief verschüttet waren. Was den Tod Ihrer Großmutter betrifft, kann ich mich an keine Einzelheiten erinnern, aber ich weiß noch, dass es damals eine ganze Reihe von Morden gab. Ich glaube, das hat meiner Mutter große Angst gemacht. Bald nachdem Ihre Mutter weggezogen war, zogen wir auch um... nach Hamburg.«
»Sie haben mir geschrieben, Sie hätten einen Engländer geheiratet«, mischte sich Decker ein. »Wie kam es dazu?«
»Ach, das ist eine so lange und traurige Geschichte.«
»Ich wollte nicht indiskret sein.«
Anika lächelte. »Das sind Sie nicht. Ich habe es ja selbst in meiner E-Mail an Sie erwähnt.« Sie überlegte einen Moment. »Die Leute sind inzwischen alle tot. Da kann ich es Ihnen ruhig erzählen. Ich habe meinen Mann mit siebzehn Jahren in Hamburg kennen gelernt.«
»Den Engländer«, sagte Rina.
»Nein, nein, einen deutschen Mann. Wir haben geheiratet. Leider lebten wir nicht glücklich bis ans Ende unserer Tage, wie bei den Gebrüdern Grimm. Bald nach unserer Hochzeit, 1933, wählte Deutschland Hitler und wurde von ihm in den Krieg geführt. Das soll keine Entschuldigung sein - das Land bekam, was es verdiente, weil unsere Eltern diesen Demagogen gewählt hatten.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Wenn man die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg fragte, ob sie Hitler gewählt hätten, sagten alle Nein. Nein, nein, nein, wir haben ihn nicht gewählt. Niemand hat ihn gewählt! Kein Mensch kann sich erklären, wie er an die Macht gekommen ist!« Angewidert fuhr sie mit der Hand durch die Luft.
»Mein Mann wurde eingezogen und kam bald in Kriegsgefangenschaft. Er war ein so genannter Staatsbeamter, im Grunde ein ganz normaler Beamter, aber da seine Berufsbezeichnung das Wort
»Staats« enthielt, dachten die Engländer, er wäre irgendein hohes Tier, und steckten ihn in ein Lager mit lauter Männern, die ebenfalls ein »Staats« in ihrem Titel hatten.
Sie spielten Karten und führten die ganze Zeit philosophische Diskussionen. Aber das wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nicht. Ich hörte erst einmal eine ganze Weile nichts mehr von ihm... vielleicht ein Jahr. Ich war jung und dumm, und nachdem die Briten den Norden besetzt hatten, verliebte ich mich in einen Engländer, weil er die blaue Uniform des Siegers trug. Schuld sind letztendlich meine Eltern. Wären sie nicht umgezogen, hätte ich mich in einen Amerikaner verliebt. Da wäre ich besser dran gewesen.«
Rina nickte lächelnd, aber Decker zuckte verwirrt mit den Schultern.
»Gegen Ende des Krieges«, erklärte Rina, »wurde Deutschland auf drei Seiten besetzt: im Norden von den Briten, im Osten von den Russen und im Süden von den Amerikanern. Deswegen wurde Auschwitz von den Russen befreit und Dachau von den Amerikanern. Anika meint, wenn sie in München geblieben wäre, also im Süden, hätte sie einen Amerikaner kennen gelernt.«
»Verstehe«, sagte Decker.
Anika seufzte. »Ich habe mich von meinem deutschen Ehemann scheiden lassen, der nicht fassen konnte, dass seine junge Frau mit dem Feind davonlief. Ich habe Hans damit sehr wehgetan. Später erfuhr ich, dass er auch wieder geheiratet hat, ein sehr nettes Mädchen. Die beiden bekamen vier Kinder. Er war sehr glücklich... viel glücklicher als ich. Geschieht mir recht. Wo war ich stehen geblieben?«
»Sie hatten sich gerade von Ihrem deutschen Mann scheiden lassen«, rief ihr Decker ins Gedächtnis.
»Ach ja. Ich habe Cyril Emerson geheiratet und bin mit ihm in eine Kleinstadt in Devonshire gezogen. Sie können sich bestimmt vorstellen, wie freundlich ein deutsches Mädchen damals von der englischen Arbeiterklasse aufgenommen wurde.
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