Und der Herr sei ihnen gnädig
Weltkrieg fand, musste man sie zur Polizei bringen.
Aber all die politischen Gruppen hatten geheime Waffenlager. Amalie stieß auf ein solches geheimes Lager, und brav und dumm, wie sie war, meldete sie es den Behörden. Leider hatte sie eins der Nazis gefunden, und bei der Polizei arbeiteten viele Mitglieder dieser Partei. Alle wussten, dass sie aus politischen Gründen ermordet wurde.«
Anika nippte an ihrem Tee und schien ihre Gedanken zu ordnen.
»Dann wurde eine weitere Frauenleiche gefunden, und danach traf es Ihre Großmutter. Zu dem Zeitpunkt verboten die Mütter ihren Töchtern bereits, allein auf die Straße zu gehen. Es gab in der Stadt eine Menge Verrückte, nicht nur Hitler.«
»Ich habe die Mordakte meiner Großmutter gefunden«, erklärte Rina.
»Mein Gott, wie sind Sie denn da rangekommen?«
»Das ist eine lange Geschichte. Aber bei ihrer Akte befanden sich auch die der beiden vor ihr ermordeten Frauen. Anscheinend wurden die Unterlagen zusammen in einer großen Schachtel aufbewahrt. Mir schickte man eine Kopie, nicht das Original.«
»Was enthält diese?« »Nicht viel«, antwortete Decker. »Einen Pathologiebericht, Aufzeichnungen von Verhören, Zeugenaussagen, die Ergebnisse der Spurensicherung. Einen Vergleich ihres Falls mit denen der beiden anderen Frauen: Marlena Durer und Anna Gross. Soweit ich es beurteilen kann, waren die polizeilichen Ermittlungen ziemlich bescheiden. Können Sie sich an weitere Morde erinnern?«
»Nach Ihrer Großmutter gab es noch zwei weitere Fälle, Mrs. Decker. Dann sind wir umgezogen, aber an den letzten kann ich mich gut erinnern, weil es sich um ein junges Mädchen handelte, das auch in Schwabing wohnte, gar nicht weit von uns entfernt. Sie hieß Johanna, und sie war nur ein wenig älter als ich. Ach, es waren schreckliche Morde in einer schrecklichen Zeit.«
Mittlerweile war Anikas Gesicht rot angelaufen, und sie atmete schwer.
»Gott sei Dank gehört das alles der Vergangenheit an«, versuchte Rina sie zu beruhigen.
»Ja... « Die alte Frau brauchte ein paar Momente, bis sie sich wieder gefangen hatte. »Ja, es gehört der Vergangenheit an, und bei meinen Spaziergängen sehe ich jeden Tag die Berge, den Himmel und die ganze Schönheit hier. Ihr Großvater hat gut daran getan, mit Ihrer Mutter wegzuziehen. Die anderen Familien blieben, aber man begegnete den mutterlosen Mädchen nicht mit Mitleid, sondern mit Misstrauen. >Was hat deine Mutter getan, dass sie umgebracht wurde Wenn Sie mich fragen, Mrs. Decker, dann wurde Ihre Großmutter von demselben Täter ermordet, auch wenn die Fälle der anderen Frauen ein bisschen anders lagen. Wenn ich so darüber nachdenke... es war trotzdem alles sehr ähnlich.«
»Haben Sie irgendeine Idee, wer es gewesen sein könnte?«
»Nein, tut mir Leid. Irgendein Irrer, ein politischer Fanatiker, auf jeden Fall ein Wahnsinniger. Davon gab es jede Menge.« Anika biss die Zähne zusammen. »Einer von den Polizisten... er hat mit uns gesprochen. Ich kann mich noch gut an ihn erinnern - ein starker Mann mit blauen Augen und schwarzem, lockigem Haar. Er hatte... ich weiß nicht, so einen stolzen Gang... eine ganz besondere Ausstrahlung. Er sprach leise, aber sehr eindringlich. Falls wir etwas gesehen oder gehört hätten, müssten wir es ihm unbedingt sagen. Er war gleichzeitig beängstigend und faszinierend. Leider kann ich mich nicht mehr an seinen Namen erinnern.«
»Heinrich Messersmit?«, fragte Decker.
Sie zuckte mit den Schultern.
»Rudolf Kalmer?« Decker schwieg einen Moment. »Oder Axel Berg?«
»Der könnte es gewesen sein. Ich frage mich, was aus ihm geworden ist.« Sie fuhr mit ihrer knochigen Hand durch die Luft. »Wie auch immer, inzwischen ist er tot. Sie sind alle tot. Ich sollte auch längst tot sein.«
»Gott bewahre!«, protestierte Rina.
Anika lächelte. »Ich war froh, als wir damals umzogen. Hamburg war anders - ein unabhängiger Staat, eine Hafenstadt, internationaler, weniger bayerisch. Und das Bier in Hamburg ist auch stärker.« Sie warf einen Blick auf ihr uhrloses Handgelenk.
»Es ist zehn nach zwölf«, sagte Decker.
»Martha kommt sicher gleich«, wiederholte Anika. »Sollen wir ihr entgegengehen?«
In dem Moment ging die Tür auf.
Martha war eindeutig Anikas Schwester. Sie hatte das gleiche faltige Gesicht, das gleiche ausgeprägte Kinn und ebenso weißes Haar wie ihre Schwester, auch wenn das ihre zu einem Knoten hochgesteckt war. Sie trug ein maßgeschneidertes Kostüm, dazu
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