Und der Herr sei ihnen gnädig
Kinder.
Anika Lubke lebte in einem leuchtend gelben, einstöckigen Haus, dessen Seiten mit blauen Holzleisten verziert waren. Die Haustür wurde von zwei Erkerfenstern eingerahmt. Neben dem Eingang stand ein Mast, auf dem die dänische Flagge wehte. Die Hausnummer war mit roter Farbe auf blau-weiße Delfter Fliesen gemalt. Vor dem Haus blühten Feldblumen in Hülle und Fülle, der Garten war eine wahre Farbenpracht. Jemand hatte einen originalgetreu mit Bart und Mütze ausgestatteten nordischen Seemann mitten in einem Feld von Gänseblümchen platziert - die dänische Version einer Vogelscheuche. Decker parkte den Porsche und warf einen Blick auf seine Uhr. Zehn Uhr vierzig. Sie waren zwanzig Minuten zu früh dran.
»Was meinst du?«, fragte er Rina.
»Ich glaube nicht, dass es ihnen etwas ausmachen würde. Aber wenn du ein ungutes Gefühl dabei hast, können wir ja noch ein paar Minuten spazieren gehen.«
Bevor sie eine Entscheidung treffen konnten, ging die Haustür auf. Die Frau, die herauskam, wirkte groß und dünn und trug ein mit Callablüten bedrucktes Hauskleid. Ihre Haut war hell und rosig, ihr langes weißes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. »Lieutenant und Mrs. Decker?«
»Hallo«, antwortete Rina. »Wir sind ein bisschen früh dran.«
»Nein, nein, das ist völlig in Ordnung.« Sie hatte einen leichten, etwas steif klingenden Akzent. »Kommen Sie doch bitte herein.«
Der Weg zum Haus war schmal. Decker ließ Rina den Vortritt. Die Frau stellte sich als Anika vor und trat dann beiseite, damit sie eintreten konnten. Das Wohnzimmer war ein schlicht und zweckmäßig eingerichteter Raum mit hellem Hartholzboden und gelb getünchten Wänden. Couch und Sessel hatten gerade Rückenlehnen und waren mit einem blau karierten Stoff bezogen. Als Couchtisch diente eine Truhe, die mit handgemalten Blumen verziert war und aussah, als wäre sie schon sehr alt. An den Wänden hingen Stillleben, hauptsächlich von Blumen - es handelte sich um echte Ölgemälde, wenn auch keine besonders guten -, außerdem ein paar Zeichnungen und eine Karte von Dänemark. Keine Familienfotos. Vielleicht hingen die im Schlafzimmer. Es roch ziemlich penetrant nach Kohl.
»Das Essen ist leider noch nicht ganz fertig.« Anika fuchtelte mit ihren dünnen Armen herum. »Sie müssen entschuldigen.«
Rina lächelte. »Kein Problem.« Erst jetzt fiel ihr auf, wie faltig die alte Frau war. Ihr Gesicht war von tiefen Furchen durchzogen, und da sie so mager war, hing ihre Haut schlaff herab, aber ihre blauen Augen blitzten ebenso wie ihre Zähne, auch wenn Rina vermutete, dass es sich um ein Gebiss handelte. »Das Essen riecht wunderbar, Miss Lubke, aber leider werden wir nichts davon essen können. Wir leben koscher -«
»Ach! Aber natürlich.«
»Ich bestehe darauf, dass Sie essen, wenn es fertig ist«, fuhr Rina fort. »Ich bin sicher, dass uns da was entgeht. Was ist es?«
»Hvidkälsrouletter - Kohlrouladen mit Fleischfüllung. Ich kann Ihnen rasch noch ein paar vegetarische machen.«
»Nein, nein, nur keine Umstände«, antwortete Rina. »Mit einer Tasse Tee bin ich völlig zufrieden.«
»Und Sie, Lieutenant Decker?«
»Tee wäre wunderbar.«
»Kommt sofort!« Für ihr Alter bewegte sie sich noch ziemlich behände. Eine Minute später kehrte sie aus der Küche zurück. »Ich habe das Wasser aufgesetzt. Martha ist in der Kirche. Als Protestanten waren wir in Bayern damals so etwas wie Exoten. Es ist ein sehr katholisches Land mit vielen Kirchen im Rokokostil, wegen der Nähe zu Italien. Außerdem lebten in Bayern damals viele russische Aristokraten, sodass es auch Kirchen mit Zwiebeltürmen gibt, die von der russischen Architektur beeinflusst wurden. Innen sind sie mit Marmor und Gold ausgestattet, und auf die Decke ist ein Himmel aufgemalt, an dem Engel und Putten schweben. Nicht gerade meine Vorstellung vom Himmel.«
Ihre Sprechweise hatte noch viel vom Singsang der nordischen Sprachen.
»Martha wird sicher gleich da sein. Ah, und das Wasser kocht auch schon. Bin sofort zurück.«
Nachdem sie gegangen war, flüsterte Rina: »Wie alt ist sie?«
»Vier- oder fünfundachtzig, glaube ich. Vielleicht sogar noch ein bisschen älter.«
»Die Frau hat vielleicht Energie.«
»Genau wie deine Mutter. Die alte Heimat scheint starke Frauen hervorgebracht zu haben.«
Rina klopfte nervös mit der Fußspitze auf dem Boden herum. Weder sie noch Peter hatten Platz genommen. Anika kam mit einem Tablett zurück. »Bitte setzen Sie sich
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