Und der Herr sei ihnen gnädig
nicht um eine Übersetzung zu bitten, weil ich das Geräusch selbst hörte - das hohe, schrille Schreien eines Babys.
»Wo?«, unterbrach ich seinen Redestrom. »Donde?«
»Aqui, aquil« Er deutete auf einen armeegrünen Container, der bis zum Rand mit blauen Plastikmüllsäcken gefüllt war.
»Rufen Sie die 911 an!« Ich rannte hinüber, zerrte mehrere der Säcke heraus und riss den ersten auf. Welke Salatblätter, matschige Gemüsereste und Golfbälle aus grauem Fleisch und hart gewordenem Fett quollen mir entgegen. »Ich brauche Hilfe! Necesito ayuda! Ahorita.«
»Si, si!« Der Mann stürmte zurück ins Haus.
Das Weinen wurde lauter, was ich als gutes Zeichen wertete, auch wenn ich von der Quelle des Wehklagens noch nichts entdecken konnte. Mein Herz hämmerte wie wild, während ich mir die erste Schicht von Müllsäcken vornahm. Der Container war tief. Um alle Säcke herauszuholen, würde ich hineinsteigen müssen, wollte aber erst sicherstellen, dass ich dabei auf nichts trat. Drei Männer kamen aus dem Hintereingang gelaufen.
»Escalera, eine Leiter!«, brüllte ich. » Yo necesito una escalera!«
Einer rannte zurück ins Haus, die beiden anderen begannen Müllsäcke herauszuziehen. »Vorsichtig, vorsichtig!«, rief ich. »Ich weiß nicht, wo es steckt!« Ich gebrauchte das Wort »es«, weil es sich auch um ein Kätzchen handeln konnte, das jemand in den Müll geworfen hatte. Aufgeregte Katzen klingen manchmal wie weinende Babys. Trotzdem wussten wir alle, dass wir es nicht mit einer Katze zu tun hatten.
Endlich traf die Leiter ein. Rasch stieg ich hinauf und begann, vorsichtig weitere Müllsäcke herauszuheben. Sobald ich im Strahl meiner Taschenlampe ein Stück des schmutzigen Metallbodens erkennen konnte, stützte ich mich mit den Händen am Rand des Containers ab und ließ mich hinunter. Unten angekommen, griff ich aufs Geratewohl nach dem nächsten Sack und überzeugte mich davon, dass aus ihm nicht das Geräusch kam, ehe ich ihn über den Rand nach draußen stemmte.
Langsam, Cindy, ermahnte ich mich. Du willst es doch nicht vermasseln.
Mit jedem entfernten Müllsack kam ich dem Schreien ein wenig näher. Ich spürte, wie die Wut in mir hochstieg. Da hatte sich jemand viel Zeit fürs Vergraben genommen. In der untersten Schicht wurde ich endlich fündig - ein dreckverschmiertes neugeborenes Mädchen, an dessen Körper noch die Nabelschnur hing. Seine Augen waren fest zugekniffen, seine Schreie kräftig und tränenlos. Ich bat um etwas, worin ich es einwickeln konnte, und die Männer brachten mir ein frisches Tischtuch. Nachdem ich damit seinen Körper gesäubert und vor allem Mund und Nase so gründlich gereinigt hatte, wie es mir möglich war, hüllte ich es in das Tuch und hielt es hoch, damit jemand es mir abnehmen konnte. Dann hievte ich mich selbst aus dem Container.
Der Mann, der die Serviette geschwenkt hatte, reichte mir ein feuchtes Handtuch. Während ich mir damit Gesicht und Hände abwischte, fragte ich ihn nach seinem Namen.
»Martino Delacruz.«
»Das haben Sie gut gemacht, Senor Delacruz!« Ich lächelte ihn an. »Bueno trabajo.« Der Mann hatte feuchte Augen.
Wenige Augenblicke später wurde mir das Bündel erneut in die Arme gedrückt. Ich fühlte mich immer noch ziemlich schmutzig, aber da ich die einzige Frau in der Runde war, erwartete man wohl von mir, dass ich mich mit solchen Sachen auskannte.
Zum Glück stimmte das auch mehr oder weniger, weil ich eine achtzehn Jahre jüngere Halbschwester hatte. Ihre Mutter Rina -meine Stiefmutter - war nach der Geburt sehr krank geworden, und dreimal dürfen Sie raten, wer einsprang, als mein Vater kurz vor dem Zusammenbruch stand.
Das Positive daran war die starke schwesterliche Bindung, die dadurch entstand, zumindest auf meiner Seite. Hannah Rosie Decker war das einzige Geschwisterchen, das ich besaß, und ich konnte mir keine bessere Schwester vorstellen. Ich vergötterte sie. Eigentlich mochte ich die gesamte Familie meines Vaters. Rinas Söhne waren großartige Jungs, und ich liebte und respektierte sie, sosehr man Stiefgeschwister lieben und respektieren kann. Rina kümmerte sich ganz wunderbar um meinen Vater - eine durchaus erwähnenswerte Tatsache, denn mit Dad auszukommen war nicht gerade einfach, wie ich aus eigener Erfahrung wusste.
»Hat jemand die 911 angerufen?«
» Yo kable.« Delacruz reichte mir einen weiteren sauberen Lappen für mein immer noch schmutziges Gesicht.
»Danke, Senor.« Ich hatte mir mittlerweile
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