Und der Herr sei ihnen gnädig
ich dir gerne.«
»Danke.«
Er küsste ihre weichen Lippen und ließ sich dann am Esszimmertisch nieder. Rina hatte alles für ihn ausgebreitet - eine Aktenmappe mit einem ordentlichen kleinen Stapel Blätter, einen leeren Notizblock, einen Kugelschreiber, einen Bleistift und einen Stadtplan von München. Ehrlich gesagt war er froh, beschäftigt zu sein. Er fürchtete sich vor einem Vakuum, denn früher oder später würde es sich mit Bildern füllen, die er lieber vergessen hätte.
Er griff nach der Aktenmappe.
17
Die Leiche von Regina Gottlieb war in einem Gestrüpp im Englischen Garten gefunden worden, einem lang gezogenen Park, der parallel zur Isar verläuft, aber durch mehrere Straßen vom Fluss getrennt ist. Auf der Karte sah es aus, als würden sich Park und Fluss im Norden Schwabings treffen, aber dann endet der Garten, und die Isar setzt ihren Weg ohne ihn fort.
Decker lehnte sich zurück und versuchte sich an sein morgendliches Jogging durch den Park zu erinnern. Sein Körper hatte sich noch ganz taub angefühlt, als die frostige Morgenluft auf sein Gesicht traf. Der Jetlag hatte seine innere Uhr durcheinander gebracht, es war erst sechs und noch stockfinster, erst in etwa einer Stunde würde es hell werden. Wahrscheinlich war es gefährlich, so früh durch den Park zu laufen, aber es bereitete ihm Vergnügen, mit der Gefahr zu kokettieren. Mal sehen, ob es jemand wagen würde, ihn zu überfallen. Von den kahlen Bäumen tropfte Wasser auf ihn herab, der Boden war nass und stellenweise matschig, und überall lagen abgebrochene Zweige und Äste herum, Folgen des nächtlichen Sturms. Die Luft roch nach Moos, Moder und verrottenden Pflanzen. Der Eisbach führte nach den starken Regenfällen Hochwasser und donnerte mit Getöse über die Steine und Felsbrocken, die das Flussufer säumten. Gegen Ende seines Laufs hatte sich ein graues Licht über die Stadt gelegt. Decker konnte sich an die vornehmen Viertel zu beiden Seiten des Flusses erinnern, deren beeindruckende, wohl proportionierte Steinhäuser mit viel Liebe zum Detail gebaut waren.
Er wünschte, er hätte damals mehr auf seine Umgebung geachtet. An vieles erinnerte er sich nur verschwommen. Obwohl er an vielen Wahrzeichen der Stadt vorbeigekommen war, hatte er keine Ahnung, wo sie sich in Relation zueinander befanden. Andererseits, woher hätte er auch wissen sollen, dass seine Ortskenntnis eines Tages wichtig für die Aufklärung dieses lange zurückliegenden Falls sein würde?
Als er sich nun die Stadt als Ganzes auf dem Plan ansah, stellte Decker fest, dass der Englische Garten im nordöstlichen Teil Münchens lag. Er und Rina hatten in einem Hotel an der Maximilianstraße gewohnt, wo gute Restaurants, Fünf-Sterne-Hotels und Designer-Boutiquen zu finden waren. Vor Ort war ihm die Entfernung zwischen Hotel und Englischem Garten nicht sehr groß erschienen. Auf der Karte sah es viel weiter aus.
Rina hatte ihm auch eine detaillierte Karte des riesigen Parks besorgt, in dem es große Wiesenflächen, Seen und jede Menge Spazierwege gab. Im Zentrum lag der Chinesische Turm, der Ähnlichkeit mit einer Pagode hatte. Gleich daneben befand sich einer der vielen Münchner Biergärten, wo die Leute im Sommer draußen saßen, Bier tranken und das schöne Wetter genossen.
Der Park beherbergte außerdem die Münchner Bogenschieß-plätze, und an seinem nördlichen Ende gab es einen weiteren berühmten Biergarten namens Aumeister, ein ehemaliges altes Jagdhaus aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert. All das rief in ihm keinerlei Erinnerungen wach. Das Einzige, woran er sich noch lebhaft erinnern konnte, waren die kahlen Bäume, die eisige Luft, die Feuchtigkeit und der Geruch nach Moder.
Wahrscheinlich hatte es an seiner damaligen Stimmung gelegen.
Rina kam mit einer Tasse Kaffee herein. »Schon was gefunden?«
Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Ich sitze erst seit fünf Minuten hier.«
»Ich erwarte Wunder.«
»Tja, die dauern etwas länger.« Er nahm einen Schluck vom Kaffee. »Aah, das tut gut. Vielen Dank.«
Rina setzte sich und legte ihre Hand auf seine. »Lass dir Zeit.«
»Ich versuche mir gerade die geographischen Verhältnisse vorzustellen. Der Englische Garten ist groß. Deine Großmutter wurde am nördlichen Ende gefunden. Das wirft mehrere Fragen auf.«
Er griff nach dem Bleistift. »Erstens, was hat sie dort gemacht? Wenn man den Stadtführern und meinen eigenen vagen Erinnerungen glauben darf, handelt es sich dabei um eine sehr
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