Und der Herr sei ihnen gnädig
noble Gegend. Deine Omah gehörte nicht zur Aristokratie, sie gehörte nicht mal zum Kleinbürgertum. Sie ist nicht jeden Tag in einem edel bestickten Kleid und mit einem Sonnenschirm durch den Park flaniert. Deine Großmutter war eine arme Jüdin, die sich wahrscheinlich von morgens bis abends abgerackert hat. Was hatte sie in der Gegend zu suchen?«
»Vielleicht war sie gar nicht in der Gegend unterwegs und ist nur dort abgeladen worden. Weil der Park wegen seiner Größe ein guter Platz war, um eine Leiche zu verstecken.«
»In diesem Fall handelte es sich also nicht um einen Mord im Affekt. Jemand brachte sie vorsätzlich in den Park, um sie dort zu töten oder zumindest abzuladen. Bei den anderen beiden Frauen -Marlena Durer und Anna Gross - lag der Fall anders. Sie wohnten in der Nähe des Parks, sodass sie möglicherweise nur zufällig Opfer eines Vergewaltigers und Mörders wurden - weil sie einfach zur falschen Zeit am falschen Ort waren.«
»Warum hat dann dieser andere Typ Omahs Fall zusammen mit den Morden an Gross und Durer untersucht?«
»Welcher andere Typ?«
»Dieser Kriminalpolizeiinspektor Axel Berg.« Sie lächelte. »Ein richtiger Zungenbrecher. Ich glaube auch, dass die Morde etwas miteinander zu tun haben könnten. Hast du die Aufzeichnungen von Inspektor Kalmer schon ganz gelesen?« »Nein, warum?«
Rina blätterte die Unterlagen durch. »Lies mal das hier. Es ist sehr interessant.«
Decker überflog den Text, bis er die betreffende Stelle gefunden hatte. Frau Julia Schönnacbt wurde zu dem Fall befragt. Das Opfer, Regina Gottlieb, war drei Monate bei Frau Schönnacht angestellt gewesen. Frau Gottliebs Anstellung endete, als ihre Di ens te nicht mehr benötigt wurden. Er sah Rina an. »Deine Großmutter ist arbeiten gegangen?«
»Ich hatte auch keine Ahnung.«
»Als was, glaubst du, hat sie gearbeitet? Als Dienstmädchen?«
Rina lächelte ihn besonders lieb an. »Ich muss dir ein Geständnis machen.«
Decker grinste spöttisch. »Heraus damit!«
»Ich hab meinen ganzen Mut zusammengenommen und heute Morgen, nachdem du weg warst, meine Mutter danach gefragt.«
»Hab ich's doch gewusst Hast du dich mit ihr gestritten? Rina, die Frau ist über achtzig!«
»Nein, ich habe mich nicht mit ihr gestritten. Zu meiner großen Überraschung war sie sofort bereit, über die Vergangenheit zu sprechen.«
»Hast du ihr gesagt, wozu du die Informationen brauchst?« »Nicht direkt.«
»Na bitte, da haben wir es ja schon wieder.« Für Decker war es nichts Neues, dass seine Frau hin und wieder zu einer kleinen Notlüge griff. »Was für einen Bären hast du ihr denn aufgebunden?«
»Ich hab ihr erzählt, Hannah arbeite gerade an einem Stammbaum, und deswegen müsse ich wissen, was ihre Mutter und ihr Vater beruflich gemacht hätten. Dass Opah Schneider war, wusste ich ja bereits. Ich hab zu ihr gesagt, dass ich davon ausginge, dass Omah Hausfrau gewesen sei.«
»Und?«
»Sie hat einen Moment geschwiegen, bevor sie mir voller Stolz eröffnete, dass Omah den gleichen Beruf ausgeübt habe wie Opah. Sie sei eine sehr gute Schneiderin gewesen. Habe Mama und ihrer Schwester immer schöne Kleider genäht. Sie seien die am besten gekleideten Mädchen in der Gegend gewesen, und die schönsten sowieso.« »Die Worte deiner Mutter? Ich hab sie noch nie prahlen hören.«
»Das muss das Alter sein... anscheinend lassen da die Hemmungen nach. Jedenfalls hat sie mir dann noch erzählt, Omah habe für die reichsten Leute Münchens genäht. Dann hat sie - in fast verschwörerischem Ton, als könnte mein Großvater sie aus dem Grab hören - hinzugefügt, dass Omah besser genäht habe als Opah. Zum Schluss hat sie noch gesagt, dass Hannah sich jederzeit an sie wenden könne, wenn sie noch mehr Informationen brauche.« Bei den letzten Worten war Rina ein wenig rot geworden.
»Hast du Hannah von deiner Lügengeschichte in Kenntnis gesetzt?«
»Hannah hat sich gefreut, mir helfen zu können. Ich glaube, sie spielt gerne Detektiv. Eine echte Tochter ihres Vaters. Wenn man also zwei und zwei zusammenzählt, sieht es ganz danach aus, als hätte Omah für diese Julia Schönnacht als Schneiderin gearbeitet.«
»Wo wohnte Julia Schönnacht?«
Sie deutete auf die Adresse. »In der Nähe der Ludwig-Maximilians-Universität in Schwabing... nicht sehr weit vom Englischen Garten entfernt. Vielleicht ist Omah also doch nur zufällig einem Mörder in die Hände gefallen. Vielleicht war sie gerade auf dem Heimweg, als
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