Und der Herr sei ihnen gnädig
aus, als wäre mein Vater ein armer Mann. Aber meine Mutter liebte ihre Arbeit.« Magda runzelte die Stirn. »Ich habe sie oft begleitet, wenn sie zu den Frauen ging, in die schönen Villen in Bogenhausen. Ach, was für eine Pracht, ich erinnere mich noch genau, vor allem an die Häuser, in denen die russischen Aristokraten lebten. In München gab es viele Russen... die, die vor der Revolution geflohen waren.«
Sie schwieg einen Moment, ehe sie weitersprach.
»Mein Vater fand es nicht richtig, wenn eine Frau allein zu diesen reichen Leuten ging, die noch dazu keine Juden waren. Sie haben deswegen viel gestritten. Es war keine glückliche Zeit.« Sie fuhr mit der Hand durch die Luft. »Ich möchte eigentlich nicht darüber sprechen.«
»Das kann ich gut verstehen«, sagte Decker mit Nachdruck.
Rina versuchte ihre Enttäuschung nicht zu zeigen. »Du kannst dich wirklich nicht mehr daran erinnern, wo ihr gewohnt habt, Mama?«
»Ich weiß nur noch den Namen der großen Straße. Sie hieß Türkenstraße. Wir haben in irgendeiner Seitenstraße gewohnt.« »In Schwabing«, sagte Rina.
»Ja, ja, Schwabing, natürlich!« Magda schlug sich an den Kopf. »Ich bin wirklich alt geworden.«
»Schwabing war damals so eine Art Künstlerviertel, ist es immer noch ein bisschen.« Rina drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. »Nicht schlecht, Mama. Ein sehr flottes Viertel.«
»Wahrscheinlich die Idee meiner Mutter. Sie war sehr flott. Mein Vater war eher ein braver deutscher Bürger. Ein guter Mann, aber sehr streng.« Sie bekam feuchte Augen. »Er wäre so stolz auf dich gewesen, Ginny.«
Rina griff nach der Hand ihrer Mutter. Magda legte ihre freie Hand an die Brust. »Es ist so schwer, darüber zu sprechen.«
»Wir können das Thema auch sein lassen, Magda.«
Sie wischte sich über die Augen und nickte.
»Bloß fürs Protokoll, erinnerst du dich an irgendwelche Namen von Kindheitsfreundinnen? Ich glaube, das würde Hannah gefallen. Du weißt ja, wie sehr deine Enkelin an ihren eigenen Freundinnen hängt.«
Magda lächelte wehmütig. »Lass mich nachdenken. Da waren Brigitte und Petra... ach ja, und Martha«, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort. »Sie war Martha Nummer eins und ich Martha Nummer zwei. Bevor wir nach Ungarn zogen, hieß ich nämlich Martha.«
Rina starrte sie überrascht an. »Du hast deinen Namen geändert?«
»Mein Vater hat ihn geändert. Damit ich besser nach Ungarn passte.«
»Das wusste ich alles gar nicht.« Magda zuckte mit den Achseln. »Und die Nachnamen?«, fragte Decker. »Der Mädchen?«
»Ja. Fallen dir ihre Nachnamen auch noch ein?«
»Bei den ersten beiden nicht. Die habe ich vergessen. Aber bei Martha schon, weil ich in der Schule Martha Gottlieb war und sie Martha Lübke. Ich war Jüdin und sie Protestantin, für München eher ungewöhnlich. Bayern ist extrem katholisch. Meine Schwester und ich gingen an eine sehr liberale Schule - ebenfalls eine Idee meiner Mutter. Auch darüber war mein Vater nicht besonders glücklich.« Sie seufzte. »Ich habe meinen Vater erst mit meiner Mutter und dann mit meiner Stiefmutter erlebt. Ich glaube, die erste Ehe war... nicht sehr glücklich. Das braucht Hannah aber auch nicht zu wissen.«
»Ich glaube, Hannah würde viel lieber hören, wie ihre Großeltern sich kennen lernten und heirateten und wie ihr nach Amerika gekommen seid«, meinte Decker.
»Wir sind 56 geflohen, als die Kommunisten kamen. Aber das ist eine andere Geschichte.«
Decker tätschelte der alten Frau die Hand. »Du bist eine richtige altmodische Heldin.« »Bah!« Sie knuffte ihn in die Schulter und erhob sich. »Ich werde mal nachsehen, wie es den Jungs in der Küche geht. Möchtest du ein Stück Strudel, Peter?«
»Nur, wenn ich koffeinfreien Kaffee dazu bekomme.«
»Was glaubst du denn? Um diese Zeit gibt es bei uns nur noch koffeinfreien. Sonst müsste ich ja die ganze Nacht mit Ginny telefonieren.« Sie lachte über ihren Witz. Sobald sie außer Hörweite war, flüsterte Rina ihm zu: »Das hast du gut gemacht.« »Danke.«
»Aber wir haben gerade mal die Oberfläche angekratzt. Wir wissen noch immer fast nichts über das Leben ihrer Mutter.« »Und dabei werden wir es auch belassen«, flüsterte Decker. »Peter -«
»Rina, hör mir zu. Wie alt ist sie inzwischen? Über achtzig? Es ist für sie eine schmerzhafte Erinnerung - eine von vielen schmerzhaften Erinnerungen! Wir werden sie nicht weiter damit behelligen, sie hat genug durchgemacht. Ende der
Weitere Kostenlose Bücher