und der Hongkong-Buddha
Pollifax.
Punkt zehn Uhr trat ein Mann mit einem schweinsledernen Koffer in der Hand aus FengImports , was Mrs. Pollifax in Erstaunen versetzte, denn sie hatte niemanden gesehen, der den Laden betreten hatte. Mit großen Schritten eilte er das Gäßchen herauf. Er war großgewachsen und hager und ganz bestimmt kein Chinese. Sein Gesicht war pockennarbig und seine Augen... Mrs. Pollifax brauchte gar nicht hinzusehen, denn sie kannte diese Augen. Es war der Mann, dem sie im Flugzeug auf die Füße getreten hatte - der Mann mit der schwarzen Aura.
Ohne den Blick zu heben, eilte er an ihr vorbei und verschwand dann in der Straße oberhalb der Dragon Alley.
»Was hatte dieser Mann bei FengImports zu suchen?« fragte sich Mrs. Pollifax beunruhigt. Aus welchem Grund war er hierhergekommen - offenbar noch ehe er Zeit gefunden hatte, sein Gepäck in einem Hotel zu lassen? So brennend sie diese Fragen auch interessierten, vorläufig mußten sie unbeantwortet bleiben, denn noch wußte sie zu wenig. Und von Sheng Ti war weit und breit nichts zu sehen.
Fünfzehn Minuten nach zehn Uhr - niemand hatte FengImports betreten oder war auch nur in die Nähe des Ladens gekommen - erhob sich Mrs. Pollifax von der Bank und schlenderte die Dragon Alley abwärts, wobei sie ihr Bestes versuchte, um wie eine unternehmungslustige Touristin zu wirken. Erneut blieb sie vor dem Schaufenster von FengImports stehen, damit sie einen Blick in das Innere des Ladens werfen konnte. Es war jedoch nur das Mädchen zu sehen, das mit einem Staubwedel aus Federn irgendwelche Figürchen in einer Vitrine abstaubte. Mrs. Pollifax seufzte tief und versuchte vergeblich, ein Gähnen zu unterdrücken, das sie jedoch übermannte.
Sie beschloß, gegen Mittag noch einmal zurückzukehren und lenkte ihre Schritte in Richtung der Straße, in der sie das Taxi abgesetzt hatte. Sie kehrte ins Hotel zurück, packte ihren Koffer aus und genehmigte sich dann ein kurzes Mittagsschläfchen, um ihren Körper an die Zeitverschiebung zu gewöhnen.
Gegen Mittag war sie bereits wieder auf den Beinen und verließ zum zweiten Mal an diesem Tag das Hotel. Diesmal saß ihr Hut nicht ganz so verwegen, und eine der Rosen - offenbar von der langen Reise und der Zeitverschiebung ebenso angeschlagen wie Mrs. Pollifax selbst - ließ erschöpft den Kopf über die Hutkrempe hängen. Wieder stieg sie die Dragon Alley hinauf, doch nichts hatte sich dort verändert. Nur die Schatten waren schmaler geworden. Mrs. Pollifax blieb erneut vor dem Schaufenster stehen, um interessiert die Jade-und Elfenbeinschnitzereien zu betrachten - und einen unauffälligen Blick in das Ladeninnere zu werfen. Diesmal waren zwei Personen im Laden: Das Mädchen, das über den Ladentisch gebeugt kleine Elfenbeinfigürchen auf einem Schachbrett anordnete, und ein älterer Chinese mit gekrümmtem Rücken, der auf einem Stuhl hinter dem Ladentisch saß.
Von Sheng Ti keine Spur.
Wieder einmal mußte Mrs. Pollifax feststellen, daß ihr die Geduld, die professionelle Agenten in der Regel auszeichnet, gänzlich abging. Sie war von Natur aus sehr direkt, und bereits der Gedanke, die ganze Woche möglicherweise vergebens vor dem Laden in der Dragon Alley rumzulungern, war ihr ein Greuel. Außerdem würde man früher oder später auf sie aufmerksam werden; selbst wenn sie in irgendwelchen kunstvollen Verkleidungen vor FengImports wartete. Bisher war Sheng Ti zweimal kontaktiert worden - wie Bishop ihr erzählt hatte -, und jedesmal war er im Laden gewesen.
Sie würde ebenfalls hineingehen, denn schließlich lautete ihr Auftrag in Hongkong, Sheng Ti zu finden und mit ihm zu sprechen. Carstairs würden sich zwar entsetzt die Haare sträuben, wenn er davon erführe, doch sie war entschlossen, die Höhle des Drachens zu betreten.
Gelassen und völlig ruhig drückte Mrs. Pollifax die Klinke der Ladentür nach unten und betrat FengImports .
Der Mann, der hinter dem Ladentisch saß, hatte das Gesicht eines ehrwürdigen chinesischen Weisen. Seine Haut erinnerte Mrs. Pollifax an zerknittertes Pergament, und der dünne graue Bart, der sich am Kinn des Alten verlor, tat ein übriges, diesen Eindruck zu verstärken. Sein Blick blieb einen Augenblick lang an den Rosen auf Mrs. Pollifax' Hut hängen, ehe er ihr ins Gesicht sah. In seinen Augen lag eine tiefe Müdigkeit, fand sie, die Müdigkeit eines Mannes, der sein ganzes Leben in einem schäbigen Laden wie diesem verbracht, der jedoch mehr als dies vom Leben erwartet hatte und dem es
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