und der Ruf der Karibikwoelfe
Fernando grinst wieder.
»Wo kommen die denn her? Und wer hat soeben so hässlich geknurrt?!«
»Ich weiß es nicht, Fernando.« Pedro schüttelt den Kopf. »Aber eins weiß ich. Diese beiden halben Portionen wollen eine Abreibung!« Er spuckt in die Hände.
»Die bekommen sie sofort!« Fernando ballt die Fäuste und springt vor. Das Schaf hebt blitzschnell eins seiner dünnen Vorderbeine und blockt den Hieb ab.
DUSCH !
»Auaah!« Heftig schüttelt der Angreifer die schmerzende Faust und pustet drauf. »Wie ... äh, was war das denn?!«
»Das war die halbe Portion!« Pedros Stimme überschlägt sich vor Wut. »Sie hat es gewagt, sich zu wehren! Los, mach sie fertig!«
Mit verzerrtem Gesicht wirft sich Fernando erneut auf das kleine Schaf.
RAFFPAFFZAFFPAFF !
Einen Moment und ein paar gewaltige Hiebe später findet er sich meterweit entfernt und arg verbeult auf dem Boden wieder. Zugleich dringt ein wahnwitziger Schrei aus der Kehle des Meerschweinchens: » HUUAAORGRAAOOR !«
Pedro weht davon wie ein Blatt Papier. Unsanft landet er neben seinem Kumpan.
Die beiden rappeln sich entsetzt auf. »Bloß weg hier!« Sie flitzen davon, als sei der Fliegende Holländer hinter ihnen her.
Die zwei kleinen Tiere lachen grimmig, und der kleine Junge strahlt die beiden mit seinem niedlichen Gesicht an wie am Geburtstag. »Ihr habt mich gerettet!«
»Ehrensache.« Das Schaf lächelt bescheiden, und das Meerschweinchen brummt: »Nicht der Rede wert.«
»Ich bin Luis. Und ich wette, ihr seid Rita das Raubschaf und Ruth das Raubmeerschweinchen!«
»Grapschern misstrauen, Süßfinder verhauen!«, erwidern die beiden im Chor.
»Mann, ihr seid ja noch besser, als die Leute erzählen! Dieser K.o. war Weltklasse!«
»Übertreib mal nicht gleich«, brummt Ruth, aber ihre Augen leuchten, und Rita bekommt ganz rote Wangen vor Freude.
»Mann, bin ich froh, dass ich den beiden Typen begegnet bin«, erklärt Luis. »Sonst hätte ich euch nie kennengelernt! Ich habe eine Menge Fragen an euch. Äh, hallo?« Verdutzt schaut er sich um.
Neben ihm ist niemand mehr. Rita und Ruth sind ebenso spurlos verschwunden, wie sie aufgetaucht waren. Zum Abschied aber tönt von irgendwoher ihr berühmter Piratenruf: »Hej-ho!«
»Hej-ho«, ruft Luis zurück, so laut er kann.
»Schade, dass niemand weiß, wo die beiden leben«, denkt er. »Ich würde sie zu gern einmal besuchen.«
Dann setzt er furchtlos seinen Weg fort. Er weiß Rita das Raubschaf und Ruth das Raubmeerschwein an seiner Seite, die Beschützer der Niedlichen und Flauschigen.
Wenig später sind Rita und Ruth zurück an ihrem Lieblingsplatz und schauen zum Horizont. Ihre Bucht liegt einsam an einem paradiesischen Strand. Die Einfahrt ist vom Meer aus nicht zu erkennen, genau wie es sich für einen echten Piratenunterschlupf gehört.
Nicht weit vom Wasser haben Rita und Ruth aus Palmblättern, Treibholz und echtem Piratensegeltuch eine Hütte gebaut. Ihr Bau sieht aus wie der Hut eines Piratenkapitäns. Über dem Eingang prangt der furchterregendste Totenschädel aller Zeiten. Er ist nicht nur kahl wie ein Geierkopf, er grinst obendrein und schielt wie eine betrunkene Hyäne. Ruth hat sich einen Futternapf geschnitzt, der wie eine Kakerlake aussieht, und Rita hat die Wände der Hütte mit Piraten-Postern und mit einem Wolfsfell geschmückt.
Rita und Ruth haben ihre Träume verwirklicht. Der Blick auf den Horizont ist frei, und die Sonne scheint jeden Tag. Das Wasser ist angenehm und der Sand fein wie Goldstaub.
Ritas und Ruths Sandburgen sind Kunstwerke, und niemand macht sie kaputt. Die Palmen sind tiefgrün, und die Kokosnüsse schmecken prima. Alles ist also in bester Ordnung. Rita und Ruth sind am Ziel.
Und doch ist da etwas, das stört. Etwas, das Rita und Ruth spüren, wenn sie in ihren Hängematten liegen und den weiten Horizont betrachten. Irgendwo dahinter liegen der Deich und die kleine Stadt.
Rita denkt an den Deich. Er ist schön hoch und genau so, wie ein Deich sein muss. Oben befindet sich die abgeflachte Deichkrone mit einem schmalen Weg in der Mitte.
Fußgänger und Fahrradfahrer benutzen ihn. Meist sind es Urlauber. Vorsichtig öffnen sie das Gatter, das die Schafe von der Freiheit trennt. Polternd fällt es hinter ihnen von selbst wieder zu. Manche Touristen betrachten die Schafe, holen tief Luft und machen mit albernem Gesichtsausdruck: »Mäh!«
Das bedeutet nichts anderes als: »Mäh.«
Meistens beachten die Schafe es nicht, aber manchmal erwidert
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