Und die Ratte lacht - Roman
einer, die sie hartnäckig als »geheim« bezeichneten.
Ich drang trotzdem ein, was erstaunlich leicht ging. Ich verstand nicht, was das Geheimnis sein sollte.
Die Entdeckung verblüffte mich. Wir kennen mindestens eine hebräische Version von Das Mädchen und die Ratte , die als authentisch gilt und auf das Jahr 2011 datiert wird. Doch obwohl Jenes-Israel ein Ort ist, an dem noch immer ein wenig Hebräisch gesprochen wird – eine alte semitische Sprache, die man heute mit lateinischen Buchstaben schreibt – fand sich keine Spur dieser Version in den lokalen Bibliotheken, zu denen ich Zutritt hatte. Auch die dortigen Anthropologen, mit denen ich mich zusammenbeamte, konnten sie nicht entdecken. Die zahlreichen Versionen von Das Mädchen und die Ratte , die ich fand, waren alle jüngeren Datums oder aus dem Englischen oder Arabischen übersetzt, die meisten aus den letzten zwanzig Jahren.
Ich vereinte die Bibliotheken, blätterte rasch die mythologischen Seiten durch und entdeckte, dass die Ignorierung der alten hebräischen Version von Das Mädchen und die Ratte keineswegs zufällig ist, sondern einer grundsätzlichen Ablehnung jeder Tradition entspringt.
Stasch, ich weiß, dass du dich kategorisch gegen jede Erforschung der Gesellschaften wehrst, die noch immer an ihrer Souveränität festhalten, doch wenn du dich jemals entschließen solltest, dich nach Jenes-Israel zu beamen, erwartet dich ein spannendes anthropologisches Erlebnis, das ein völlig neues Licht auf dein Projekt Anthropologie der Zukunft werfen könnte. Ich zweifle nicht daran, dass dir die Menschen dort gefallen würden, Stasch. Es handelt sich um eine Gesellschaft, die der Gegenwart huldigt, sich von allem losgesagt hat, was ihrer Existenz als souveräner Staat vorausgegangen ist, und die sich nur auf das konzentriert, was ihre zukünftige Existenz rechtfertigen kann. Man muss zugeben, dass sich aus dieser Art selektiver Erinnerung eine erstaunlich lebendige Kultur entwickelt hat, die in schwindelerregendem Tempo Vorstellungen und Werte wechselt und immer das Neue dem Alten vorzieht, noch bevor es Zeit hatte, tatsächlich alt zu werden. Es wird dich freuen, zu hören, dass sich dieses Jenes-Israel mit einer nahezu theologischen Begeisterung auf die digitale Revolution gestürzt hat, vielleicht um die Lücke zu füllen, die nach dem Auslöschen der Vergangenheit zurückgeblieben war, einschließlich der zionistischen Ideologie und der jüdischen Religion. Doch es scheint, als habe das Auslöschen der Vergangenheit auch zu einer pathologischen Zukunftsauffassung geführt: Fast alle mythologischen Repräsentationen der Zukunft sind kurzfristig und führen zwangsläufig in eine Katastrophe. Diese mangelhafte Zeitauffassung wird von den Bewohnern hartnäckig geleugnet, und alle jenes-israelischen Anthropologen, mit denen ich kommunizierte, reagierten ungeduldig, fast feindlich, als ich ihnen meine Theorien darlegte.
Nach dem Scheitern in Jenem-Israel instruierte ich meinen Implant-Chip, mich nach Jud-Idea zu beamen. Das ist eine abgesonderte und geschlossene Gemeinschaft, ein Netzwerk autonomer religiöser Enklaven, die geographisch um die Gebiete von Jenem-Israel und Jenem-Palästina verstreut sind.
Zu Beginn des Beamens war ich optimistisch. Im Gegensatz zu Jenem-Israel wurde in Jud-Idea die Vergangenheit nicht ausgelöscht, sondern auf einen Altar erhoben, und das Motiv zur Absonderung ist keineswegs der Wunsch zu vergessen, sondern die Absicht, alles zu vermeiden, was neu oder anders ist. Dieser scharfe Gegensatz zwischen zwei Bevölkerungen mit den gemeinsamen Vorfahren ist wirklich erstaunlich. Sogar die Kleidung in Jud-Idea ist altmodisch – eine schnelle Kontrolle zeigte mir, dass sie auf das 17. Jahrhundert in Polen zurückgeführt wird, auf eben jenen geographischen Bezirk, in dem die Kirche der Madonna der Ratte zu finden ist.
Die digitalen Wachleute wiesen mich an, jeden Beweis körperlicher Anwesenheit zu löschen und mich so zu bedecken, dass nur die Augen frei waren, dann brachten sie mich zu zwei ihrer Ältesten. Diese erklärten sich bereit, mir ein paar nostalgische Legenden zu erzählen, und anschließend gewährten sie mir freien Zugang zu den Bibliotheken, in denen solche Legenden aufbewahrt werden. Zu meiner großen Freude fand ich dort viele Legenden, die aus dem Europa der letzten Jahrhunderte stammen, doch ich entdeckte keinerlei Spuren von Das Mädchen und die Ratte , weder das Motiv, das ich suchte, noch
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