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Und die Ratte lacht - Roman

Und die Ratte lacht - Roman

Titel: Und die Ratte lacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Persona Verlag
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hinter sich gelassen haben.
    Nur schwer geht die Geschichte voran und zieht sich schnell wieder zurück.
    *
    Im Falle der alten Frau und aller, die ihr ähnlich sind, hat der erbliche Defekt seinen Höhepunkt erreicht. Ihre Tochter hatte sich beschwert, erst hinter ihrem Rücken, dann direkt ins Gesicht. Und auch das ist Teil der Geschichte, obwohl es vermutlich zu einer anderen gehört.
    Auch die alte Frau würde sich wünschen, man würde ihre zügellose Geschichte mit den entstellenden Dornen durch eine andere, zahmere ersetzen. Und wenn die Mutter der Enkelin bei diesem Gespräch anwesend wäre, das an einem sonnenüberfluteten Nachmittag in Tel Aviv stattfindet, würde sie vermutlich strenger mit der Erzählerin umgehen als alle Sachverständigen der Erzählkunst.
    Lass uns damit in Ruhe, würde sie sagen. Hör auf mit dieser Geschichte.
    *
    Was ist das, eine Jüdin?
    Wenn es so schlimm ist, Jüdin zu sein, warum habt ihr mich zu einer gemacht?
    Ihr seid schuld. Nur euretwegen bin ich, was ich bin. Vater und Mutter sind die bösesten Menschen der Welt. Schade, dass ich das nicht vorher gewusst habe. Ich hätte mir andere Eltern ausgesucht.
    Vielleicht hatte sie schon einmal das Wort Jude oder Jüdin gehört, aber fünfjährige Kinder achten nicht auf jedes Wort, das durch die Luft fliegt, erst wenn es so lange wiederholt wird, bis es Angst einjagt.
    Es gab noch andere Beleidigungen. Sie spuckte ihren Vater sogar an. Er wischte sich den feuchten Fleck ab, ohne mit ihr zu schimpfen, was gar nicht zu ihm passte. Sie versuchte, ein Abkommen zu treffen. Sie versprach, ein vorbildliches Kind zu sein. In ihrem ganzen Leben würde sie um nichts mehr bitten. Sie schwor, zu jeder Mahlzeit Kohl zu essen, morgens, mittags und abends, und dabei hasste sie Kohl.
    Sie wuschen ihr die Haare mit Wasserstoffperoxyd. Sie tobte. Das Dienstmädchen drohte, ihr die Hände zusammenzubinden, schließlich hielt sie sie mit Gewalt fest.
    Das ist, damit du nicht zu jüdisch aussiehst.
    Wenn es so etwas wie zu jüdisch gibt, muss es auch ein nicht jüdisch genug geben. Sie hatte sich schon entschieden: Sobald wie möglich würde sie aufhören, jüdisch zu sein.
    Wenn es so schlimm war, jüdisch zu sein, dann war ein jüdisches Mädchen zu sein das Schlimmste auf der Welt.
    *
    Und noch ein Wort hörte sie zum ersten Mal. Sie spuckten das Wort »Krieg« aus, wie man einen abgebrochenen Zahn ausspuckt. Danach fingen sie an zu flüstern, als hätten sie die Stimmen verloren. Und obwohl zu diesem Zeitpunkt ihre Lungen noch angefüllt waren mit Schreien, fing sie schon an, sie nachzuahmen. Erst ihre Stimme zu maskieren, dann zu flüstern, und schließlich ganz zu schweigen.
    Wenn ihr vorhabt, mich zu Fremden zu bringen, warum habt ihr mich dann auf die Welt gebracht?
    Wo ist dieses Dort?
    Wer wird mir dort bei den Hausaufgaben helfen?
    Zu wem werde ich ins Bett gehen, wenn ich nachts aufwache?
    Und wer wird dort mit mir zusammen sein?
    Warum dort und nicht hier?
    Die alte Frau rattert die Fragen heraus, eine nach der anderen, wie Kinder es machen, um zu erfahren, was sie als Nächstes erwartet. Jetzt wird ihr klar, dass dies ein Versuch ist, die Angst zu bezähmen, auch wenn sie selbst jetzt kaum zugeben kann, dass der Versuch zum Scheitern verurteilt war. Kann die Enkelin durch die Hülle der alten Frau die Fünfjährige sehen? Ihre kindliche Stimme blitzt durch die Ritzen der Geschichte, denn nachdem sie sie mit Gewalt zur nächsten Stufe gebracht hatten, hatte sie geübt, nie anders als mit einer erwachsenen Stimme zu sprechen.
    *
    Als ihre Kraft nachließ – wie viel Kraft hat ein fünfjähriges Kind? –, flüsterte sie, kommt ihr mich besuchen? Und sie schworen es.
    Einen Moment, bevor sie das Haus verließen, als das Dienstmädchen ihre Hände in fleischige Fesseln hüllte, fragte sie fast tonlos, kommt ihr und holt mich wieder ab, sobald es möglich ist?
    Und wieder versprachen sie es ihr.
    *
    Ihre Puppe nahm sie nicht mit. Deren Zöpfe waren schwarz wie ihre, es war eine jüdische Puppe.
    *
    Ein Geschichtenerzähler sollte auch etwas davon haben, wenn er erzählt. Denn Loslassen, so sagen die Fachleute, bringt Erleichterung. Dementsprechend könnte man sagen, die alte Frau wird von einer starken Motivation angetrieben. Dennoch bringt solch eine Geschichte keinen sichtbaren Vorteil. Der natürliche Akt, in die Vergangenheit zurückzukehren und in den Erinnerungen zu wühlen, bringt nur den Besitzern ganz anderer Geschichten etwas. Das

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