Und die Ratte lacht - Roman
Ebenbild des kleinen Mädchens, das sie einmal war, nicht in diese weiche Süße getaucht ist, werden wir es vermeiden, sie »jenes kleine Mädchen« zu nennen. Wenn die alte Frau vor dem Spiegel steht, sucht sie – sie sucht immerfort – in der Hoffnung, das Gesuchte nicht zu finden.
*
Ich habe es verloren.
Ich habe alles verloren.
Nicht alles.
Fast alles.
*
Geduld, mein Mädchen. Jedem Erzähler fällt es schwer, die richtigen Worte zu finden, und dieser bestimmten Erzählerin fällt es besonders schwer, denn das Aufflackern der Erinnerung hat noch keine Übersetzung in die Erzählsprache gefunden.
Das war eine ausgezeichnete Ausrede, die Geschichte nicht der Mutter des Mädchens zu erzählen, die die alte Frau ebenfalls »das Mädchen« nennt, obwohl sie schon lange kein Mädchen mehr ist.
Sie nennt alle »Mädchen«, die sie geboren hat. Und auch jene, die von denen geboren wurden, die sie geboren hat.
Welchen Anfang soll ich wählen? Vielleicht den, der dem Anfang vorausgegangen ist?
Es war einmal – das ist die übliche, nette Form, mit einer Geschichte zu beginnen. Also, es waren einmal ein Mann und eine Frau. Sie lernten sich kennen. Sie liebten einander. Mehr oder weniger. Sie bekamen eine Tochter. Wurden eine Familie. Ein bekanntes, geordnetes Modell. Das ist ein vielversprechender Anfang.
Doch die Geschichte weigert sich, so erzählt zu werden.
*
Warum tut man mir das an?
Was habe ich getan?
Warum?
Das ist die ganze Geschichte in einem einzigen Wort.
*
Die alte Frau wehrt sich. Geschichte? Warum nennt man das überhaupt eine Geschichte? Das Wort macht aus ihr etwas Märchenhaftes, verändert harte Details in Anekdoten.
Aber das Mädchen gibt nicht nach. Es ist eine Geschichte. So hat sie es gelernt. Und nicht nur eine einfache Geschichte, sondern ein Zeugnis aus erster Hand. Sie hat sogar ein Heft mitgebracht, um alles aufzuschreiben. Auf dem Umschlag klebt ein Engel, ein bekannter Druck, der überall zu haben ist. Der Engel stützt das Kinn in die Hand. Seine Flügel sind bunt, und er blickt nach oben.
Das Mädchen, das der alten Frau gegenübersitzt, ist ihre Enkelin. Die alte Frau weiß, dass sie sich im Lauf der Geschichte vor den Augen des Mädchens verändern wird, und deshalb zögert sie. Es ist wichtig, das Mädchen nicht vor ihrer Zeit älter werden zu lassen. Sie hat Angst vor Veränderungen.
Was wäre gewesen, wenn …
Was wäre gewesen, wenn dieses Mädchen, das ihr gegenübersitzt, an Stelle des Mädchens gewesen wäre, das sie einmal war?
Das wäre eine ganz andere Geschichte.
Oder vielleicht auch nicht.
*
Ein Haus. Ihr Zimmer. Ein Fenster in der Wand. Ein Spitzenvorhang mit Rosenmuster. Eine Puppe mit Zöpfen. Sie ging schlafen, mit der Puppe unter ihrem Kissen. Mitten in der Nacht stand sie auf, zog die Puppe hervor, hatte Angst, sie könne ersticken. Sie bat die Puppe um Verzeihung.
Ihre Mutter lachte.
Die Enkelin ist enttäuscht. Das ist nicht der Anfang, den sie erwartet hat. Eines Tages, wenn sie selbst die Geschichte erzählen wird, falls sie es tut, wird sie einen anderen Anfang wählen. Ihren eigenen Anfang.
*
Ich habe sie geliebt.
Sie haben mich geliebt.
Das ist der Anfang.
Nein, diese Geschichte kann man nicht mit Liebe beginnen.
*
Hätte man sie gebeten, einen Rechenschaftsbericht abzulegen, statt eine Geschichte zu erzählen, wäre es leichter. Ein vorformulierter Fragebogen. Sie hätte die trockenen Fakten liefern können, ohne eigene Klagen zu formulieren. Einzelne ausgewählte Fragen hätten ihr geholfen, die Kontrolle zu behalten, und alles, was sie nicht erzählen wollte, wäre verschlossen geblieben.
Sobald sie sich bereit erklärt hatte, den Wunsch ihrer Enkelin zu erfüllen, hatte sie erkannt, dass diese Geschichte zu erzählen bedeutete, sie herauszufordern. Jetzt hat sie keine Wahl, sie ist in die Falle gegangen.
Gegen ihren Willen, geschlagen, versucht sie einen neuen Anfang.
2
Eine große Stadt. Eine von vielen in Europa. Im Winter liegt hoher Schnee. Der See ist zugefroren. Zum Geburtstag bekam sie Schlittschuhe. In ihrem himmelblauen Cape fuhr sie im erlaubten Bereich, wo die Eisschicht ausreichend dick war. Die Leute sagten, es gebe Fische unter dem Eis. Sie sah keine.
Ein fünfjähriges Mädchen kann nicht alles mit seinen Sinnen erfassen.
Wer hielt ihre Hand, damit sie nicht fiel?
Ihr Vater. Auch ihre Mutter. Das Dienstmädchen? Vermutlich nicht. Das Dienstmädchen trug immer seine Uniform: ein dunkelblaues Kleid
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