Und die Ratte lacht - Roman
Stasch.
Ich ergriff die Hand des Mädchens. Ich sagte, nirgendwo steht, dass Gott das Lachen erschaffen hat. Das Lachen ist durch ein Wunder entstanden, ohne dass die Hand des Schöpfers im Spiel war.
Und Gott sah, dass es gut war, und er ließ die versehrte Welt, so wie sie war, denn solange wir lachen, erinnern wir ihn daran, dass wir da sind und etwas von dem reparieren, was ihm misslungen ist.
Ohne unser Lachen würde Gott selbst nicht mehr existieren.
7. Juli 1944
Ich bin stolz auf sie. Meine kleine Schülerin ist klug und von rascher Auffassungsgabe. Heute haben wir das Alte Testament zu Ende gelesen. Bevor sie einschlief, erinnerte ich sie an ihre Mütter, Eva und Sara, Rachel und Lea, Rebekka und Dina, Miriam und Debora, Ja´el und Judith, Ruth und Esther und Michal und Maria. Auf dem Grabstein meiner Großmutter, in einem Dorf weit von hier, sind die Worte eingehauen: »Sie war mir eine gute Mutter.«
Das Mädchen wiederholt die Namen und fragt: Woher weißt du, dass sie gelebt haben?
Ich sage, wir geben die Erinnerung weiter, wie wir die Perlen des Rosenkranzes zwischen die Finger laufen lassen.
Sie fragt, und wenn der Faden zerreißt?
Jetzt schlaf schön, du Tochter so vieler Mütter. Eines Tages wirst auch du …
Auf meinem Grabstein wird stehen: »Und was für ein Sohn warst du ihr?«
12. Juli 1944
Gedenktag der heiligen Veronika
An der sechsten Station seines letzten Gangs trat eine Frau namens Veronika aus der Tür ihres Hauses. Es war sehr heiß an jenem Tag in Jerusalem, und Jesus lief der Schweiß über das Gesicht. Veronika wischte ihn mit ihrem Tuch weg, und seine Züge drückten sich im Stoff ab. Niemand weiß, wohin dieses Tuch verschwunden ist. In allen möglichen Kirchen in Europa bewahrt man in kostbaren goldenen Gefäßen Teile dieses Tuchs mit dem traurigen Abdruck seines Gesichts, aber ich glaube, wenn man eines Tages das wirkliche Tuch entdeckt, wird man sehen, dass der Sohn lacht.
Mädchen, wenn du dir Mühe gibst, zu lachen, wird auch der Vater sich Mühe geben, große Mühe, um mit dir zu lachen.
26. Juli 1944
Gedenktag der heiligen Joachim und Anna
Manchmal vergesse ich, dass ich geboren bin, wem ich geboren bin. Das, was ich erfahren habe, ist wenig gegen das, was ich nie erfahren werde. Das Lager aus Erde ist unsere Schule. Mit dem wenigen, was ich weiß, male ich die Grenzen der Welt darauf. Ich gieße Wasser in kleine Vertiefungen und mache sie zu Ozeanen, ich schiebe Erde zu Gebirgen, ritze Täler hinein und enthülle Wüsten. Schau, Mädchen, hier in der Tiefe verbirgt sich der verlorene Kontinent.
Sie hört zu und gibt sich Mühe, nicht draufzutreten.
Ich stecke Kreuze in die Erde. Hier leben andere Brüder, mit Schlitzaugen, und dort Brüder mit Haaren so schwarz wie Kohle. Sofort reibt sie sich erstaunt die Haut.
Kinder, so lerne ich, fordern absolute Ehrlichkeit. Früher war ich einmal wie dieses Mädchen, jetzt aber bin ich voller Zweifel. Eine Frage vermeidet sie, nämlich wo ihre Brüder sind.
Jedesmal, wenn ich das Wort »Jude« sage, erschrickt sie.
Ich sagte, auch Joachim und Anna, die Eltern Marias, waren Juden.
Sie stopfte sich Erde in die Ohren.
Nach dem Unterricht lag sie in der Nische und malte etwas mit ihrer Kohle an die Wand. Als ich das Bild sehen wollte, verdeckte sie es mit ihrem Körper.
Stasch, sagte sie, versprich mir etwas.
Ich schwieg. Von allem, was ich je versprach, besonders was ich dir versprach, mein Vater, habe ich nichts gehalten.
Stasch, schwöre mir, dass du nie stirbst.
Ich habe Angst, dass sie meine Umarmung als Versprechen nahm.
1. August 1944
Glücklich das Kind, welches das Lachen einer Ratte gehört hat. Irgendwo im Herzen des Lichts, das zu den Spuren vergangenen Lebens führt, lebt auch diese Erinnerung. Die Hoffnung, in vollkommener Dunkelheit Lachen zu erwarten, ist verrückt. Aber die Ratte hört nicht auf, den Mund aufzureißen.
Lehre sie zu lachen, kleines Mädchen, und sie wird dir für immer dankbar sein.
2. August 1944
Die Kerze neben meinem Kopf brennt. Der Wind dringt durch die Ritzen und droht, die Flamme zu löschen. Schatten folgen dem Mädchen, ihr Gesicht ist schon nicht mehr zu sehen. Ich lege meine Soutane nicht ab, ich schlage meine Klauen in die Haut darunter. Der Leib ist ein Gefäß der Sünde, so habe ich gepredigt. Könnte ich mich doch in Geist verwandeln.
Ich bin dabei, alles, was in mir steckt, auf das Papier zu bringen.
Warum kommen wir nicht mit einem Vorrat an fertigen
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