Und Freunde werden wir doch
ist immer so abweisend«, murmelt sie.
»Wahrscheinlich fürchtet er, schon wieder auf Ablehnung zu stoßen.« Hanna versucht ihre Mutter zum Reden zu bringen.
»Wie leben die Menschen dort?«
Frau Voss stellt die Milchflaschen in den Kühlschrank. Sie wäscht die Äpfel ab, und dann beginnt sie nachdenklich zu sprechen.
»Das Leben in Chile ist so ganz anders als bei uns. Es ist schwer, das mit einigen wenigen Sätzen zu erklären. Der demokratisch gewählte Präsident Allende wurde Neunzehnhundertdreiundsiebzig ermordet. Eine Militärdiktatur übernahm die Macht. Es gab keine freien Wahlen mehr, Zeitungen wurden verboten. Wirtschaftlich wurde Chile für den Weltmarkt geöffnet, und viele Menschen verloren ihren Arbeitsplatz. Ausländische Billigware überschwemmte das Land, und die inländischen Firmen konnten mit ihr nicht konkurrieren. Da gewerkschaftliche Organisationen, die eine Verbesserung des Lohn- und Arbeitsrechtes hätten herbeiführen können, verboten wurden, wurde die Armut immer größer. Die Löhne blieben sich ziemlich gleich, doch die Kosten des täglichen Lebens stiegen ständig. Stellt euch vor, daß Eltern ihre Kinder betteln und stehlen schicken, damit die Familie nicht verhungern muß. Schulgeld können sie sowieso nicht aufbringen. Menschen sterben, weil es an den einfachsten Medikamenten fehlt, an Pflegepersonal in den Spitälern, an medizinischen Einrichtungen. Gegner des Regimes wurden gnadenlos verfolgt. In Chile konntest du nicht sorglos durch die Straßen spazieren wie hier, es konnte geschehen, daß plötzlich Militär angefahren kam, wahllos in die Menge schoß oder sich Menschen herausgriff und anzündete. Tausende flüchteten vor den Mordkommandos in andere Länder.«
»Das ist ja schrecklich«, sagt Sandra leise. »Deshalb ist Ronni also hier.«
»Ja, eine Diktatur ist schrecklich«, antwortet Frau Voss und fragt dann: »Aber wer ist Ronni?«
»Der chilenische Junge aus unserer Klasse«, erklärt Hanna.
Frau Voss nickt und meint: »Nächstes Mal kann ich euch noch mehr erzählen. Jetzt mach ich erst einmal etwas zu essen.«
Sandra sieht auf die Uhr und ist entsetzt: »Mensch, ich muß sofort nach Hause! Heute habe ich nämlich nicht gesagt, daß ich hier bin.« Sie zwinkert Hanna verschwörerisch zu, holt ihre Bücher aus dem Zimmer ihrer Freundin, ruft Tobias »Bessere dich!« zu und ist schon draußen.
Als sie nach einem Dauerlauf keuchend zu Hause ankommt, begrüßt ihre Mutter sie mit den Worten:
»Da war ein Anruf für dich.«
11
Jeder Freitag ist ein dreizehnter - für Ronni jedenfalls. Es ist nicht das unerwartete Pech, das ihn an Freitagen ereilt, sondern das ganz normale Unglück, daß er dann stärker als sonst spürt.
Am Freitag fährt Ronni immer mit dem Bus bis zur Ludwigshöher Straße, steigt dort aus und geht zu Fuß weiter, ein Stück noch die Wolfratshauser Straße entlang. Beim Autohaus Riedel biegt er rechts in die Seitenstraße ein, und damit hat er sein Ziel unübersehbar vor Augen: Ronni ist auf dem Weg zu Siemens.
Seine Schritte werden zögernd. Er sieht über das Feld, das hier noch immer bestellt wird: eine ausgesparte, zur Zeit grüne Fläche zwischen dem Großkonzern und der verkehrsreichen Ausfallstraße fast eine idyllische Insel. Hinter diesem Feld verschwindet die Sonne am Horizont, manchmal in gleißendem Rot, manchmal als kleiner vernebelter grauer Ball. Dieses Stück Land hat Ronni schon in duftendem Gelb gesehen, kurz vor der Rapsernte, und er hat es im Herbst erlebt, wenn die Krähen hinter dem Traktor herpicken. Er hat den Flug der Zugvögel über diesem Feld beobachtet, eine geregelte und doch hier und da ausgefranste Formation von Tieren, ein lebendiger Pfeil, der nach Süden zieht. Eine unglaubliche Sehnsucht hat ihn da überfallen, der brennende Wunsch, sich in die Lüfte zu erheben und mitzufliegen, irgendwohin, nirgendwohin.
Doch Ronni darf nicht in den Lüften dahinschweben, er ist hier, um seinen Vater abzuholen. Auf beiden Seiten der Straße sind an den Laternenpfählen Wahlplakate befestigt. Auf einem davon ist Deutschland, einig Vaterland zu lesen. In dicken schwarzen Lettern steht es da. Darunter hat einer Asylant, schleich dich! gesprayt.
Ronni liest die Worte, aber sie treffen ihn nicht sonderlich. Zu spüren, daß Asylanten hier unerwünscht sind, dafür bedarf es nicht solcher Sprüche. Das erfährt man jeden Tag hautnah. Am besten, die Leute wissen gar nicht, wer man ist: »Wir kommen aus Südamerika. Mein
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