Und Freunde werden wir doch
seine Familie in Sicherheit zu bringen und in einem anderen Land neu zu beginnen.
Noch heute dreht er sich oft unvermittelt um, als könne jemand hinter ihm her sein, als müsse er sich verbergen vor den Mordkommandos. Er kann mit niemandem darüber sprechen. Hier versteht man ihn nicht.
»Warum bist du nicht in eine Polizeistation geflüchtet?« hat ihn neulich ein junger Kollege gefragt. Der Ahnungslose! Ein Staat, der Mörder bezahlt, kennt kein Recht.
Das Gefühl der Ohnmacht wird er nie mehr loswerden können. Und wenn es ihm tagsüber gelingt, sich von seinen Ängsten abzulenken, dann wacht er nachts schweißgebadet auf.
Ronni erkennt seinen Vater gleich zwischen den anderen. Plötzlich durchdringt ihn ein warmes Gefühl, das er schon lange nicht mehr hatte. Doch dieses Gefühl, kaum daß er es verspürt, wird verdrängt von ängstlicher Abwehr: Hoffentlich spielt er heute nicht wieder den Vater, der alles im Griff hat. Hoffentlich läßt er mich zufrieden und fragt nicht soviel, dann ist alles etwas leichter.
Ronni überquert die Straße und geht auf seinen Vater zu. Der lächelt gezwungen. Er reicht seinem Sohn die Hand hin, als begrüße er einen unbekannten Geschäftspartner. Er bemerkt selbst, daß dies nicht die richtige Geste ist, und zieht die Hand wieder zurück. Schweigend gehen die beiden in Richtung Wolfratshauser Straße nebeneinander her, keiner sieht den anderen an.
Endlich sagt Salvador Ramirez etwas. Er sagt etwas, um seinen Sohn abzulenken von der Schmiererei, an der er jeden Morgen und jeden Abend vorbei muß: Asylant, schleicht dich. Salvador will nicht, daß sein Sohn das liest. Er will nicht, daß seine Kinder sich wie Außenseiter fühlen, sie sollen eine gute Kindheit haben, sie sollen unbeschwert und fröhlich sein und keine Angst mehr haben.
Aber Salvador weiß sehr wohl, daß das Leben seiner Kinder keineswegs unbeschwert ist. Und er fühlt sich schuldig. Er fühlt sich überhaupt für die ganze Misere verantwortlich, für die Kopfschmerzen seiner Frau, für die Schulschwierigkeiten der Kinder und sogar für die erniedrigenden Worte der Arbeitskollegen. Sie haben recht: Er ist ein Versager, der nicht mal seine Familie allein ernähren kann, der seine Frau putzen schicken muß.
Es ist merkwürdig, je länger er hier lebt, um so normaler erscheinen ihm Asylantenbeschimpfungen. Bald glaubt er schon, er habe wirklich keine Berechtigung hier zu sein oder überhaupt zu leben, er müsse sich heimlich davonschleichen, sich unsichtbar machen. Vertrieben aus der Heimat, weg von allen Freunden, von Meer und Bergen, und unerwünscht überall sonst, ein ungewollter Mensch, den die Erde am besten verschlucken sollte.
Aber es gibt einen Rest von Anstrengung und Bemühung. Wenigstens sollen die beiden Kleinen, Ronni und Felipe, es gut haben, sollen einen Papa erleben, der sich für sie einsetzt, sich um sie kümmert, einen starken Papa, der für sie da ist. Um Ronni also von dem Asylantenspruch abzulenken, fängt Salvador an zu reden. Daß der Bus heute morgen Verspätung hatte wegen eines Unfalls, das erzählt er mit großer Ausführlichkeit, und was es bei Siemens zu essen gab. Während er sich bemüht, so normal und selbstverständlich wie möglich zu sprechen, denkt Ronni: Was redet er denn die ganze Zeit? Lauter belangloses Zeug! Hoffentlich hat er nicht schon im Betrieb angefangen zu trinken. Das ist verboten!
Sie erreichen die Bushaltestelle, und Ronni ist erleichtert, als er den Bus kommen sieht. Vater und Sohn steigen hinten ein. Sie stellen sich ans Fenster. Sie setzen sich nie hin, auch nicht, wenn genügend Plätze frei sind, aus irgendeinem Grund mag Salvador nicht sitzen. Also stehen sie da, halten sich an der Mittelstange fest und sehen aus dem Fenster. Ronni schaut krampfhaft hinaus. Er ahnt, was ihn erwartet. Vor der Heckenstallerstraße fragt der Vater oft ganz beiläufig, ob sie nicht noch etwas Luft schnappen und an der nächsten Haltestelle aussteigen sollen. Darauf darf sich Ronni auf keinen Fall einlassen, sonst hat er verloren. So war es schon öfter gewesen. Da waren sie dann »ganz zufällig« an einer Gaststätte vorbeigekommen und »nur mal kurz« hineingegangen. Ronni bekam eine Limo, während der Vater in großer Hast mehrere Glas Bier hinunterkippte. Dann wurde er langsam richtig normal, gesprächig und auch spendabel. Ronni durfte an dem Geldautomaten spielen und auch die Musikbox bedienen. Sie genehmigten sich immer noch eine halbe Stunde mehr und der Vater
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