Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und fuehre mich nicht in Versuchung

Und fuehre mich nicht in Versuchung

Titel: Und fuehre mich nicht in Versuchung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vera Bleibtreu
Vom Netzwerk:
geschmackvoll gerahmter Picassodruck hing über dem Sofa (gab’s den auch bei IKEA? Susanne nahm sich vor, das bei Gelegenheit herauszufinden). Auf dem Sofatisch aus Kiefernholz (was sonst?) standen schon zwei Tassen, eine Kanne Tee dampfte auf einem Stövchen, auf einem Teller hatte Vogel Kekse gerichtet. Die sonnengelben Vorhänge rahmten eine schöne Aussicht ein. Aus dem fünften Stockwerk konnte man erstaunlich weit sehen, eine Wohnqua-lität, die man dem häßlichen Bau von außen gar nicht  zugetraut hatte. Auch das Sofa und die Sessel waren gelb, so wie die Tassen. Christian Vogel hatte offenbar das Bedürfnis, sich die Sonne ins Haus zu holen. «Wenn er das alles selbst eingerichtet hat, dann hat er mehr drauf, als sein schwabbeliger Händedruck vermuten läßt», dachte Susanne. «Manchmal täuscht der erste Eindruck eben doch.» Sie wählte das Sofa, nahm dankend eine Tasse Tee und zog ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber aus ihrer Handtasche. Christian Vogel setzte sich ihr gegenü-
    ber auf einen der gelben Sessel. «Um es gleich offen zu sagen, wir hatten nicht das beste Verhältnis, mein Onkel und ich», eröffnete Christian das Gespräch mit seiner Quä kestimme. «Einen solchen Tod hätte ich ihm natürlich nie gewünscht, aber ich mag jetzt auch nicht so tun, als ob ich am Boden zerstört wäre.» Susanne machte eine beschwich-tigende Handbewegung. «Am besten erzählen Sie mir einfach ganz offen, wie Sie Ihren Onkel erlebt haben – was ich dann für die Ansprache verwende, ist eine andere Sache», ermunterte sie ihn. «Ich finde, Beerdigungsansprachen sind nicht dazu da, über einen Menschen zu richten. Es geht eher darum, Erinnerungsbilder aufleuchten zu lassen. Und wenn Sie mir helfen, daß ich ein Bild von Ihrem Onkel gewinnen kann, dann kann auch die Ansprache persönlicher sein. Im übrigen gibt es keinen perfekten Menschen, meistens sind es sogar unsere kleinen und großen Fehler, die uns sympathisch machen. Wir beide entscheiden einfach, was ausgesprochen werden darf und was nicht.»
    Christian Vogel nickte erleichtert, offenbar war es Susanne gelungen, einen Draht zu ihm zu finden. «Perfekt, das ist in der Tat das Stichwort, das mir zu meinem Onkel einfällt.
    Er war irgendwie perfekt und erwartete das auch von anderen. Das hat mich mein Leben lang unglaublich unter  Druck gesetzt.» Die Stimme bekam einen leicht beleidig-ten Tonfall. «Auch mit anderen hat er das so gehalten.
    Eigentlich habe ich ihn sehr geliebt und bewundert, er war ja auch mein Patenonkel und hat sich oft um mich gekümmert. Meine Eltern waren da eher desinteressiert, Onkel Steffen war der Bruder meiner Mutter, ich glaube, die beiden hatten auch kein sehr enges Verhältnis. Genau kann ich Ihnen das nicht sagen, meine Mutter und ich haben nie darüber gesprochen, und sie selbst lebt auch nicht mehr.»
    Christian Vogel sammelte sich, so als fürchte er, sich in Erinnerungen zu verlieren. «Jedenfalls hat mich Onkel Steffen oft besucht und mit mir viel unternommen.» Er überlegte einen Moment. «Aber wissen Sie, er hat nie einfach nur so mit mir gespielt, er hatte immer einen Plan, was ich dabei lernen sollte. Das war natürlich auch alles spannend, aber ich hatte immer das Gefühl, er testet jetzt, ob ich das kann oder nicht. Das Verrückte ist, er wußte oder spürte genau, wo ich eine Begabung hatte, manchmal, längst bevor ich mir selbst dessen bewußt wurde. Und dann stellte er mir eine Aufgabe, wie um herauszufinden, wie weit diese Begabung reichte. Er ermunterte mich auch immer: ‹Du schaffst es, Christian, probier es doch mal aus›, und das hat mich auch angespornt.» Christian Vogel rührte nachdenklich in seiner Tasse. «Irgendwann hatte ich das Gefühl, ich falle dabei auf etwas herein.» Er verstummte.
    «Auf was denn?» fragte Susanne neugierig nach. Christian Vogel suchte nach Worten: «Ja, auf einen Versuch oder so.
    Als ob er nicht mich meinte, also, als ob nicht ich persönlich ihm am Herzen läge. Ich war das Versuchsobjekt Christian Vogel, an dem zu erproben war, wie lange er braucht, die richtigen Antworten auf einen Fragebogen zu finden, den Weg aus einem Labyrinth zu entdecken, einen  schwierigen lateinischen Text zu übersetzen.» Christian Vogel zögerte lange, bevor er fortfuhr, seine Stimme verlor auf einmal ihren unangenehmen Unterton, sie wirkte dafür leise, auch ängstlich, so, als ob in der Erzählung der kleine Junge, der er einmal gewesen war, zu Worte käme.
    «Einmal hat er

Weitere Kostenlose Bücher