Und fuehre mich nicht in Versuchung
Trauerfeier einfügen, wenn es ihm so wichtig war, daß er die Urkunde aufgehängt hat.» Susanne nahm den Rahmen mit der Urkunde vorsichtig entgegen und sichtete ihre Notizen. «So, Herr Vogel, jetzt muß ich mir noch ein paar Daten notieren. Also, Ihr Onkel, Steffen Vogel, wurde geboren am 20. Juni 1952. Wo?» «In Berlin», antwortete Christian. «Und was waren seine Eltern von Beruf?»
Christian überlegte, um alle Fakten zu sortieren. «Mein Großvater hatte ein kleines Chemieunternehmen, meine Großmutter war vermögend und nicht berufstätig. Das Unternehmen blieb im Osten, als beide Ende der 50er Jahre mit ihren beiden Kindern, also meinem Onkel und seiner älteren Schwester Gisela, in den Westen geflohen sind. Mit dem Vermögen meiner Mutter, das schon vorher zu großen Teilen hier im Westen angelegt war, konnten sie dann etwas Neues in der Nähe von Frankfurt aufbauen.
Später ist die Firma von Hoechst aufgekauft worden.
Meine Mutter ist mit ihrem Erbteil ziemlich verschwen-derisch umgegangen, ich habe praktisch nichts geerbt, als meine Eltern gestorben sind. Mein Onkel hat – wie alles – natürlich auch die Verwaltung seines Erbes perfekt organisiert. Ich habe noch keinen Überblick, wieviel er tatsächlich besaß, aber es wird eine ansehnliche Summe sein.
Allein das Haus in Gonsenheim ist bestimmt eine Million Euro wert. Mein Onkel hat nie geheiratet, ich bin das einzige Kind seiner Schwester, sonst gibt es keine Verwand-ten. Aber ich glaube schon, daß viele zu seiner Beerdigung kommen werden. Einmal die Kollegen von Mainz-Glas, dann vielleicht noch jemand vom Amuse Gueule und halt alle, die aus Sensationsgier kommen.» Christian schwieg erschöpft, dann fuhr er verzagt fort: «Meinen Sie, wir müssen singen? Das klingt bestimmt schrecklich, und mein Onkel liebte doch die Perfektion. Am liebsten wäre mir eine CD, er schätzte Bach, das paßt doch, oder?» Susanne stimmte einer musikalischen Gestaltung mit Hilfe einer CD-Anlage zu, wonach sie und Christian Vogel noch den weiteren Ablauf der Trauerfeier regelten. Dann verabschiedete sich Susanne, sie war etwas mehr als eine Stunde in der kleinen Wohnung gewesen und hatte viel erfahren – über einen Menschen, der ihr durch die Erzählungen seines Neffen merkwürdig nahe gerückt war, und über ein gespanntes, manchmal bedrückendes, in seiner Eigenart berührendes Onkel-Neffe-Verhältnis. Sie hatte viel Stoff zum Nachdenken bekommen. Vogel brachte sie noch zur Tür. «Danke, Frau Pfarrer. Wissen Sie, mir ist gar nicht so klar gewesen, daß ich ihn doch lieb gehabt habe, meinen perfekten Onkel. Also, Sie machen das bestimmt prima.»
Er reichte ihr die Hand. «Das hoffe ich», dachte Susanne, während sie durch das Treppenhaus nach unten lief, die Aufzüge hingen offenbar immer noch in den oberen Eta-gen fest. Und sie überlegte, ob Christian Vogel wohl weiterhin in seiner Wohnung bleiben oder ins Haus seines Onkels umziehen würde. Sie hatte sich nicht getraut, ihn das zu fragen. Sie glaubte fast, er würde die Wohnung behalten. Sie paßte zu ihm, das Haus war für ihn eine Nummer zu groß.
* * *
Tanja und Arne beobachteten, wie Susanne das Haus verließ. Sie hatten die Schicht übernommen. Christian Vogel wurde rund um die Uhr bewacht, seitdem er das Polizeiprä-
sidium nach dem Gespräch mit Tanja und Arne verlassen hatte. Nach wie vor war er der Hauptverdächtige, er hatte als einziger Angehöriger den größten Nutzen vom Tod seines Onkels. Bislang hatten sie aber nichts herausbekommen, außer daß Christian Vogel ein Mensch mit festen Gewohn-heiten war, der morgens um dieselbe Uhrzeit aufstand, sich beim Bäcker in der Siedlung zwei Brötchen und die Zeitung holte, eine halbe Stunde später mit der Straßenbahn zur Arbeit fuhr und nachmittags stets um 16.00 Uhr zurück kehrte. Bisher hatte er danach die Wohnung niemals verlassen. Tanja hatte selten ein ereignisloseres Leben beobachtet.
«Wenn der mal tot in der Wohnung liegt, dann ist er an Lan-geweile gestorben, jede Wette», meinte sie zu Arne. Sie hatte sich den Autositz zurückgestellt und döste etwas vor sich hin. Arne war mit der Beobachtung der Haustür dran.
Es war ziemlich eintönig und erforderte gleichzeitig eine ungeheure Konzentration. Ständig gingen Menschen in das Hochhaus hinein beziehungsweise kamen aus ihm heraus, aber Christian Vogel rührte sich nicht. «Hat sich in Sachen Jacobi heute eigentlich irgend etwas ergeben?» fragte er Tanja. Er selbst war zum
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