Und führe uns nicht in Versuchung
beeindruckend.» Weimann bestellte bei seiner Sekretärin den von Susanne gewünschten Tee, und Susanne nutzte die Zeit, um sich umzusehen. Weimann hatte dem funktional in Weiß gehaltenen Raum mit den geraden Lichtquellen durch großformatige, halbabstrakte Bilder eine individuelle Note verliehen. «Die stammen noch aus meiner Zeit als Gemeindepfarrer in Schlangenbad», erläuterte er. Er schien über die Fähigkeit zu verfügen, Gedanken zu lesen. Weimann erzählte von dem in Schlangenbad ansässigen Künstler Jungwirth und von den anregenden Gesprächen und Ausstellungen, die sie miteinander geführt und organisiert hatten. Einige Werke Jungwirths hatte er privat erworben. Neben dem Schreibtisch hing ein schlichtes, großes Holzkreuz an der Wand. Susanne beschloß, daß sie zu diesem Vorgesetzten Vertrauen haben konnte. Und in der Tat nahm er sich viel Zeit, um ihre aktuelle Situation zu erkunden und gemeinsam mit ihr zu überlegen, was gut zu ihrer beruflichen Biographie passen könnte. Sie einigten sich dann darauf, daß Susanne zunächst die Vakanzbetreuung der St. Johannisgemeinde in der Mainzer Altstadt übernehmen sollte. Nach häufigem Wechsel der Pfarrerinnen und Pfarrer war dort die Zahl der Gottesdienstbesucher zusammenge-schrumpft, außerdem hatte die Gemeinde das Problem vieler Stadtpfarreien: Familien zogen in die Stadtrandgemeinden, die Zahl der Evangelischen nahm ab. Weimann wünschte sich für diese Gemeinde auch eine Pfarrerin, die zur Teamarbeit fähig war, eine Eignung, über die der letzte Pfarrer der Gemeinde nicht übermäßig verfügt hatte. Denn Susanne sollte ja mit Zimmermann, dem Stadtkirchenpfarrer, eng zusammenarbeiten. «Die Gemeinde soll sich nun erst einmal besinnen, was sie für sich will», erläuterte Weimann. «Eine Vakanz kann einer Gemeinde auch gut tun. Aber die St. Johannisgemeinde hat schon zu viel ertragen müssen, als daß man sie ganz allein lassen sollte. Ich glaube, Sie sind da richtig am Platz. Wir haben zwar keine Dienstwohnung für Sie, das Pfarrhaus wird gerade renoviert, aber eine Kirchenvorsteherin wird bald beruflich nach Hamburg ziehen und Sie könnten ihre schöne Dachwohnung in der Mainzer Altstadt mieten. Wollen Sie sich das Ganze einmal überlegen?» Susanne Hertz hatte nicht lange überlegen müssen. Und so hatte sie vor etwas mehr als einem Jahr die Vakanzvertretung der St. Johannisgemeinde übernommen. Die Gestaltung des Sonntagsgottesdienstes hatte ihr schon immer besonders am Herzen gelegen, und sie war überrascht, wie bald sich die vorher leeren Reihen der großen Kirche wieder füllten. «Sie sollten sich auch darauf einstellen, daß einige offizielle Veranstaltungen der Gesamtkirche in St. Johannis stattfinden», bemerkte Weimann. «Mainz ist schließlich auch Landeshauptstadt und Bischofssitz, da wollen sich auch der Propst und der Kirchenpräsident immer mal wieder zeigen.» Susanne Hertz fragte sich, welcher durchschnittliche evangelische Christ ihr die komplizierten hierarchischen Strukturen der Evangelischen Kirchen wohl erklären könnte. Sie war sich außerdem ziemlich sicher, daß ihr Kirchenpräsident niemals gegen den mediengewandten, liebenswürdigen Bischof und Kardinal anstinken könnte, der einen Steinwurf weiter im Dom residierte. Den kannte jeder, auch die Evangelischen. Aber der Kardinal war auch volksnah und scheute sich nicht, mit Fanschal ins Fußballstadion zu gehen. Nun, ihr sollte es egal sein, wenn sie ab und an den Kirchenpräsidenten empfangen sollte, sie war durchaus in der Lage, auch offizielle Anlässe zu überstehen. Auf Malta war sie schließlich häufig zu Staatsempfängen eingeladen worden, als exotischer evangelischer Vogel im zu 97 Prozent katholischen Inselstaat.
Auf der Pfarrkonferenz hatte Dekan Dr. Weimann gerade die allgemeinen dienstlichen Mitteilungen verlesen und dann die Pause eingeläutet. Erleichtert erhob der Hechtsheimer Kollege seinen schweren Leib und lief erstaunlich behende auf das Buffet zu. Mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen begann er, geschickt Brötchenhälfte auf Brötchenhälfte zu schichten. Susanne stellte sich in die Schlange, die sich schnell vor den Thermoskannen und Kaffeetassen gebildet hatte, und wartete geduldig, bis sie an der Reihe war. Sie war an diesem Morgen dankbar für die Diskretion der Kollegen. Kein einziger sprach sie auf die schrecklichen Ereignisse an, obgleich ihr Name in der Zeitung genannt worden war. Sie bekam aber manchen mitfühlenden und freundlichen
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