Und führe uns nicht in Versuchung
von Lautsprecheranlagen in Kirchenräumen. Der junge Mann sah immer so aus, als ob er das Leiden Christi auf seine schmalen Schultern geladen hätte und als ob die anderen dafür verantwortlich seien. Studentenpfarrer Wilfried Selms strickte ungerührt an seinem Pullover, Pfarrer Peter Bachmann von der Friedensgemeinde in Mombach flüsterte leise kichernd mit seiner Kollegin Dorothea Becker, und Krankenhauspfarrer Sönke Friedrich kraulte nachdenklich seinen graumelierten Bart. Jetzt meldete sich Friedemann Hertel zu Wort, seines Zeichens Altenheimseelsorger, der nach der Überzeugung lebte: «Es ist alles schon gesagt worden, nur nicht von mir.» Die junge Kollegin aus Hechtsheim, die gerade erst ihr Vikariat abgeschlossen und ihre erste Stelle angetreten hatte, schrieb irgend etwas in ihren Pfarrerkalender und wirkte nicht so, als ob sie brennend an den Äußerungen Friedemann Hertels interessiert sei. Ihr älterer, beleibter Kollege hatte eben in der Küche heimlich ein belegtes Brötchen verdrückt, Susanne fing seinen zufriedenen Blick auf und sah, wie er sich erleichtert ein paar Krümel von der Weste wischte. Eigentlich sollte es erst um 10.00 Uhr eine Pause geben, das dauerte manchem eben doch zu lang. Über allem thronte Dekan Dr. Weimann mit väterlicher Autorität. Er war so groß, daß er trotz seines stattlichen Bauchs nicht fett wirkte, hatte kleine, freundlich blickende Augen hinter dicken Brillengläsern, die, je nach Situation, auch ärgerlich blitzen oder ironisch zwinkern konnten. Sein Brillengestell schien er aus den frühen 60er Jahren gerettet zu haben. Das Modell erinnerte sie an den Wirtschaftswunderkanzler Erhard, es fehlte nur noch die Zigarre. Allerdings war Weimann Nichtraucher. Noch nie hatte Susanne vom Dekan eine abfällige Bemerkung über eine Kollegin oder einen Kollegen gehört oder Indiskretionen erfahren – Weimann genoß im Pfarrerkreis großes Vertrauen. Seine Autorität wurde fraglos anerkannt. Weimann trug Sakkos, die so aussahen, als ob er sie persönlich aus der Bethel-Sammlung gefischt hätte: stets beulte es irgendwo oder an einer Stelle prangte ein Marmeladenfleck vom Frühstücksbrötchen. Der Dekan selbst schien zu spüren, daß seine Kleidung nicht perfekt saß, ständig zupfte er an seinem Sakko herum und zuckte dann entschuldigend und mit leichter Verzagtheit mit den Schultern, so, als ob er alle Hoffnung auf eine Besserung aufgegeben habe und für sein Aussehen um Nachsicht bitten wollte. Vielleicht sah er auch deshalb so zerknittert aus. Überraschenderweise trug er immer ein blütenweißes Hemd und eine Fliege, Susanne hatte ihn noch nie ohne dieses etwas extravagant anmutende Accessoire gesehen. Seine Wangen waren penibel glattrasiert, die Haare litten unter der gleichen Behandlung wie das Sakko. Sie waren zerwühlt, denn fortwährend fuhr sich Weimann durch sein feines Haar, das dann verzweifelt nach allen Seiten abstand. Es wirkte, als ob der Dekan immerzu unter Strom stünde. Susanne wußte, daß sie sich auf ihren Dekan bedingungslos verlassen konnte, und achtete seinen Rat.
Sie konnte sich noch gut an ihre erste Begegnung mit Dr. Weimann erinnern. Ihre Zeit auf Malta war abgelaufen, jede Auslandspfarrstelle wurde nur begrenzt vergeben, und Susanne Hertz wußte nicht genau, wie sie sich beruflich weiter orientieren sollte. Die Kirchenleitung hatte sie an Mainz vermittelt, und so drückte sie an einem kühlen, aber hellen Februartag die schwere Haustür des Dekanats in der Kaiserstraße in Mainz auf, die zum Treppenhaus des klassizistischen Baus führte. Das dunkle, mit schweren Steinquadern gemauerte Haus strahlte wenig Wärme aus, auch die Tür zum Dekanat wirkte abweisend. Susanne klingelte und erwartete fast, daß sie gleich ihren Personalausweis vorzeigen müßte. Doch ein freundlich wirkender Mitarbeiter geleitete sie direkt zum Zimmer von Weimann, der sie bereits an einem kleinen, mit Plätzchen und Tassen gedeckten Tisch erwartete und ihr lächelnd entgegenkam. Die Erkerfenster seines großzügig bemessenen Büros eröffneten einen schönen Blick auf die Christuskirche, den «evangelischen Dom» von Mainz. Weimann fing ihren bewundernden Blick auf: «Das war einmal die Pfarrwohnung der Christuskirche», erläuterte er. «Es wäre noch schöner, wenn es nicht diesen furchtbaren Verkehr gäbe, der Tag und Nacht durch die Kaiserstraße braust – 25 000 Fahrzeuge sind es pro Tag. Stellen Sie sich das mal vor. Aber die Aussicht ist wirklich
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