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Und immer wieder Liebe Roman

Titel: Und immer wieder Liebe Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paola Calvetti
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erste Reise allein. Die erste – und einzige – Tochter. Ich steckte den Schlüssel hinein, aber bevor ich ihn herumdrehte, betrachtete ich den matt messingfarbenen Kasten mit derselben Unruhe, mit der ich vor einer großen, halb im Sand versunkenen Muschel gestanden hätte. In ihrem Innern, so hatte man mir als Kind erzählt (und so hatte ich es als Kind geglaubt!), würde ich die Perle finden, die mich zu einem reichen Mann machen würde. Ich öffnete. Der himmelblaue Umschlag von Smythson an der Bond Street lag nur wenige Zentimeter vor meiner Nase. Ich steckte ihn in meine Jacke, schwang mich auf meine Vespa und fühlte mich wie Gregory Peck, während Du, meine unsichtbare Audrey, die Arme um die Taille ihres Prinzen schlangst. Überdreht wie ein unzurechnungsfähiger Jüngling fuhr ich durch Manhattan. Die Gullydeckel kamen mir vor wie in den Asphalt eingelassene Medaillons, und die edlen Paläste an der Madison Avenue schienen Äbtissinnen, die sich für die Vesper sammelten. Bis zum Nachmittag blieb der Umschlag in meiner Jacke. Wenn ich eine wichtige Verabredung habe, verschiebe ich sie immer. Was, wenn Du mich gebeten hättest, Dich in Ruhe zu lassen, viele Grüße, war nett, all die schönen Momente Revue passieren zu lassen, undsoweiterundsofort? In Johns Briefkasten – John ist der Mann, der uns die Wohnung vermietet hat, von der
aus ich Dir schreibe, ein Freund von Renzo – landen seine Rechnungen, seine Mahnungen, die Kontoauszüge seiner Kreditkarte, die italienische Zeitschrift »Abitare«, kiloweise Werbezettel und anderer trostloser Papierkram. Der Rest kommt per E-Mail. Nur Du nicht. Deine Aversion gegen die Technik ist ein Segen, der mir zu dieser archaischen Kommunikationsform verholfen hat. Ihre Produkte verschwinden im gähnenden Abgrund der blauen Metallkästen des US Postal Service. Anbei ein Foto von meinem Fünfzigsten. Wie Du siehst, wirke ich ziemlich zufrieden.
    Ich erwarte Deine Frageliste.
    Federico
     
    P.S. Wie lange ist es her, dass ich zum letzten Mal einen Brief eingeworfen habe?
     
     
    Die hartnäckige Gleichgültigkeit, die ich meiner Vergangenheit gegenüber an den Tag lege, ist eine Schutzmaßnahme. Federico ist es zu verdanken, dass bergeweise feige verbuddelter Müll aus einer komplett verdrängten Kindheit und einer so riskanten Jugend, wie die Jugend es nun einmal ist, jetzt eine Chance bekommt. Oder ist es eine Falle? Ich kauere zwischen den Sofakissen und lese seinen Brief. Auf den Tisch, oben auf die Zeitschriften und Bücherstapel, habe ich zwei Fotos gestellt. Das Urlaubsfoto hat Hochformat und ist rötlich eingetönt; daneben steht die große Schwester im Querformat, die ihn bei seinem fünfzigsten Geburtstag zeigt. In Druckbuchstaben hat er daruntergeschrieben: WIESO SIND MEINE LIPPEN SCHMALER GEWORDEN? Die Kluft zwischen Männern und Frauen ist nicht ideologischer, sondern schlichtweg kosmetischer Natur. Ich muss ihn gekränkt haben. Vermutlich habe ich seine Eitelkeit unterschätzt, aber auch
die typisch männliche Unfähigkeit, harmlose Kommentare als solche zu verstehen. Eine Frau weiß genau, dass sich die Lippen im Laufe der Zeit zusammenziehen. Männer nicht. Damals war jeder Geburtstag ein siegreicher Schritt in Richtung Emanzipation. Heute versuchen wir, ihn zwischen den Kalenderzahlen verschwinden zu lassen, so wie man auch andere kleine Wahnideen versteckt. Ich gehe näher an den Zwanzigjährigen mit den vollen Lippen heran. Sein Körper strahlt unverbesserlichen Optimismus aus. Ich reiche ihm kaum bis zur Schulter. Federico formt mit Zeigefinger und Mittelfinger ein V. Rechts von ihm Gabriella und Renata, eine Klassenkameradin mit langen, kupferroten Haaren, außerdem drei Typen mit schulterlangen Locken und Cavour-Bart. Hübsch waren wir, sonnengebräunt, die Augen unruhig. Wenn diese Jugendlichen in die Zukunft hätten schauen können, was hätten sie dann gesehen?
    Sein Fünfzigster auf dem anderen Foto ist überaus festlich. Federico steht inmitten eines Meers aus gelben und roten Blumen und bläst die Kerzen einer dreistöckigen Torte aus. Sieht aus wie eine Hochzeitstorte. Zu seiner Rechten stehen zwei Blondinen und schauen ihm hingebungsvoll zu, gleichermaßen anmutig und stolz. Die erwachsene Blondine hat zarte Fältchen um die Augen und zu viel Schminke auf den Wangenknochen, über ihrem Blick liegt ein Schatten. Die kleine ähnelt ihm, ist lässig, federleicht, offen. Federico hat ein anständiges Mädchen geheiratet, seine Familie ist

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