Und immer wieder Liebe Roman
freuen, wenn wir uns schreiben könnten. Das mag altmodisch und unbequem wirken, aber es scheint mir die ideale Form zu sein, wie wir von uns erzählen können, ohne Deine Gewohnheiten durcheinanderzubringen. Ein privater Ort. Der einzig vertretbare für ein Wesen wie Dich, das sich den modernen Kommunikationsmitteln verschließt. »Mails for your eyes only« lautet der Slogan, den sich ein genialer Werbetexter für die amerikanischen Postfächer ausgedacht hat. Die Briefe sind für alle anderen unsichtbar. Wenn es Dir recht ist, schreib mir an diese Adresse:
Federico Virgili, Post Office Box 772 - New York, NY 10002
Ein Kuss über den Atlantik,
Federico
Wenn Federico ein Postfach eingerichtet hat, muss er wohl ein großes Bedürfnis verspüren, mit jemandem zu reden.
»Zwei Dinge muss ich dir sagen, etwas Gutes und etwas Schlechtes. Was möchtest du zuerst hören?«
»Das Schlechte«, hatte ich geantwortet.
»Eigentlich ist es beides dasselbe«, hatte er sanft und unverfroren zugleich erklärt. »Es sind mehr als dreißig Jahre vergangen.«
»Und die gute Nachricht?«
»Mehr als dreißig Jahre sind vergangen, aber es ist, als wäre es nicht einmal ein Tag gewesen.«
Hat er eine derart schweigsame Frau geheiratet? Mir hat er nur gesagt, dass sie Anna heißt.
Die Post an der Piazza Cordusio ist nur wenige Minuten von der Buchhandlung entfernt. Um dort hinzugelangen, muss ich durch ein paar enge Sträßchen hindurch, und die Räder meines Fahrrads bleiben, wie sonst meine Absätze, zwischen den Pflastersteinen stecken. Ich befestige das Schloss an einem Straßenschild, auf dem ein weißer Pfeil auf blauem Grund Richtung Himmel zeigt. In meinem Stolz, keinen Führerschein zu besitzen, sagen mir auch die Straßenschilder nichts, oder besser: Sie sagen mir das, was ich glauben möchte. Der Pfeil verweist auf ein Oben, das ich mir heiter vorstelle, mit Wölkchen und all den Requisiten eines demokratischen Paradieses. Außer Brüdern und Eltern sind dort noch etliche andere Leute, die ich liebe, und es freut mich, sie an einem angenehmen Ort zu wissen.
Die Halle mit dem gelben Schild ist in Neonlicht getaucht. Dutzende von Leuten warten langmütig oder ungeduldig, je nach Alter und Charakter, an den Schaltern. Andere sitzen auf Metallbänken und halten wie in der Wurstabteilung im Supermarkt eine Nummer in der Hand. Jemand blättert in einer Zeitschrift,
zwei junge Menschen küssen sich leidenschaftlich, ungeachtet der missbilligenden Blicke eines älteren Herrn, der, obwohl es nicht kalt ist, einen Lodenmantel trägt. Es ist Frühling, und sechs von zehn Leuten hängen am Handy. Die Post ist ein sicherer Ort. Hier werden Umschläge verschlossen und frankiert, Rechnungen beglichen, Formulare ausgefüllt, hier gibt es Computer, hier wird die Rente ausgezahlt. Das Postamt ist eine Welt für sich, nur ich war schon seit Jahren nicht mehr hier. Ich betrete einen engen Flur, dessen Wände vollständig mit durchnummerierten Postfächern bedeckt sind. Dank der schwachen Lampen fällt ein weiches, goldenes Licht auf die geheimnisvollen Metallklappen, hinter denen ich vergessene Pakete, heimliche Schriftwechsel und krumme Geschäfte vermute. In einem Glaskasten sitzt eine junge Frau und scheint sich zu langweilen. Sie sieht mich und bedeutet mir, zu ihr zu kommen. Ich muss an den alten Film Rendezvous nach Ladenschluss denken; wer weiß, ob die junge Dame je davon gehört hat.
»Ich möchte ein Postfach einrichten«, sage ich so unbefangen wie möglich. In Wahrheit schäme ich mich, als würde ich etwas Unrechtes tun. Ohne zu ahnen, welch schweres Unwetter sie in meinem Geist auslöst, hebt die Frau die Augen von der Zeitschrift, die auf ihren Knien liegt: »Haben Sie einen Personalausweis?«
»Natürlich habe ich einen Personalausweis. Warum?«
Sind Postfächer denn nicht anonym?
»Ich muss das Formular ausfüllen. Zahlung im Voraus. Jedes Postfach hat eine Nummer und ein Sicherheitsschloss. Es gibt verschiedene Größen. Wir stecken die Post morgens hinein, Sie können sie jederzeit abholen.« In einem Land, in dem sich die unheilige Sitte durchgehender Ladenzeiten unter gar keinen Umständen durchsetzen wird, scheint mir das ein Wunder an Kundenfreundlichkeit
zu sein. Als wäre es dringlicher, zu jeder Tagesund Nachtzeit einen Brief lesen zu können, als einen Liter Milch, einen Salatkopf oder ein Päckchen Zigaretten zu kaufen. Und als wäre es das Natürlichste auf der Welt (für sie ist es das
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