Und immer wieder Liebe Roman
glücklich und hält zusammen. Und doch ist es, als würden seine Lippen irgendeine Art von Verzicht zum Ausdruck bringen. Ich schaue in einen Spiegel und halte mit der linken Hand das Bild mit meinem jungen Alter Ego daneben. Schön kann ich mich nicht finden, ich bin zu klein, der Busen erreicht bestenfalls Cup B, die Handgelenke sind zu dünn, und das Haar ist mit Sand und Salz verklebt. Unmöglich zu wissen,
was für Gedanken sich hinter diesen Augen verbargen. Sie sind vergessen, auch sie. Audrey Hepburn und Gregory Peck – der Vergleich gefällt mir. Der Wettbewerb zwischen Vergangenheit und Gegenwart scheint gewonnen, auch wenn es mir immer öfter passiert, dass ich Leuten begegne, die ich nicht erkenne, die mich aber aufs Herzlichste begrüßen. Sie fragen nach meinem Privatleben und erkundigen sich nach Michele und Mattia, die sie offenbar kennen. Beim besten Willen kann ich nicht herausfinden, wer sie sind, und hinterlasse einen schlechten Eindruck. Wie am Hochzeitstag von Gabriella. »Vielleicht wirken wir auf die anderen genauso«, sagte ich zu ihr, nachdem ich die Exfreundin ihres Bruders für eine Tante gehalten hatte. »Wenn sich jemand die Haare nicht mehr färbt, fordert er einen solchen Kommentar unweigerlich heraus«, rechtfertigte ich mich, weil sie immer noch ihre Fingernägel in meinen Unterarm bohrte. Ich weiß, dass ich binnen eines Monats noch ganz andere Sachen, ganz andere Gesichter und ganz andere Geschichten vergessen haben werde. Ich lösche sie. Ich vergesse Nachrichten, gute und schlechte, ich vergesse auch Dinge, an die ich mich gerne erinnern würde. Mein Gedächtnis funktioniert selektiv. Bezogen auf gegenwärtige Ereignisse und am frühen Morgen etwa ist es frisch. Nach der Lektüre eines Buchs kann ich mich an jede Seite erinnern und finde, wenn sie mich beeindruckt haben, einzelne Abschnitte, Sätze oder sogar Wörter wieder. Das hält etwa eine Woche an, dann verblassen die Bilder und Gefühle, die während der Lektüre wachgerufen wurden, und irgendwann verschwinden sie vollständig. Für eine Buchhändlerin ist das ein echtes Problem, auch wenn mich die Kunden zu enormen Gedächtnisleistungen herausfordern. Der Anwalt Pedrini, ein Zivilrechtler am Stadtgericht von Mailand, der jede Woche in meinen Laden kommt, hat ein poesiebasiertes System gegen solche Probleme entwickelt. Er
kennt etwa zweitausend, dreitausend Verse auswendig und deklamiert sie sonn- und feiertags morgens mindestens zehn Minuten lang, um in Form zu bleiben. In meinem alten Job habe ich simultan übersetzt, aus dem Italienischen ins Französische und ins Englische, mein Wortschatz war so groß, dass er jeden Kreuzworträtselexperten vor Neid hätte erblassen lassen. Sätze, Wörter, Begriffe, alles ging zum Ohr hinein und kam verwandelt aus mir wieder heraus. In meinem neuen Leben, in diesem Spiegel, erkenne ich das Mädchen vom Foto wieder. Für heute reicht’s. Diese Herumwühlerei ist nicht meine große Stärke.
Mailand, den 1. Mai 2001
Via Londonio 8
Lieber Federico,
die Liste mit den Fragen war zu lang, daher habe ich sie auf nur zwei reduziert. Für einen geschwätzigen Menschen wie mich ist das eine ziemliche Herausforderung, ich hoffe, Du weißt das zu würdigen. Wie waren wir? Was haben wir gemacht? Dir ist bekannt, dass ich an einer Art Gedächtnisschwund leide, in meinem Gehirn und in einem Teil meines Herzens häufen sich Sätze, Bilder und Fragmente, die ich nie wieder zusammensetzen wollte, ein verstümmeltes Archiv von Wochen und Monaten, die vom Nichts verschlungen wurden. Ich habe versucht, mich zu konzentrieren und die Dinge, die Dich betreffen, wie Sammelbildchen zusammenzustellen. Verstreute Notizen:
Letztes Jahr der Oberstufe, Klasse 5B, wissenschaftliches Alessandro-Volta-Gymnasium.
Ein orangefarbener Pullover (scheußlich, würde ich sagen), kurz, mit apfelgrünen und gelben Querstreifen. Was mich betrifft.
Du im blauen Rollkragenpulli und blauer Drillichhose. Sehr weich (die Strickjacke).
Ein Hallo, das in den Straßenbahnschienen stecken blieb.
Die Knie aufgerissen und Scham, den Klassenraum zu betreten. An jenem Tag stand eine Übersetzung aus dem Lateinischen an, und ich hatte keine Zeit mehr, mich vorher noch umzuziehen (wie Du siehst, erinnere ich mich an Details, aber nicht an die allgemeinen Umstände).
Eine graue Vespa. Deine.
Ein Flur mit den Streifen von Turnschuhen auf dem Linoleum.
Schulterlange Haare. Beide.
Der Billardtisch in der Bar in der
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