Und immer wieder Liebe Roman
führt nur Titel aus den Bestsellerlisten, außerdem Bonbons und Eiffeltürme in Schneekugeln. Am Gleis zwanzig halte ich Ausschau nach dem Entwerter, doch als ich meine Fahrkarte stempeln lassen will, stelle ich fest, dass sie weg ist. Panisch krame ich in meiner Tasche herum, doch sie ist nicht da. Wo würde eine zerstreute Buchhändlerin ihre Fahrkarte hinstecken, überlege ich fieberhaft. In ein Buch! Und tatsächlich finde ich das Ticket zwischen den Seiten von Die Krankheit Tod von Marguerite Duras.
Paris-Quiberon, 12.05 Uhr. Wagen 3, Platz 56.
Ich stecke die Karte in das Metallmaul des Entwerters und suche dann meinen Zug. Der pulvergraue TGV mit dem roten Streifen an der Seite ist eine Heuschrecke mit angelegten Flügeln. Er gleitet auf den Gleisen herein und stößt ein psiiiiii aus (es klingt ähnlich wie bei einem Schlauchboot, aus dem man am Ende der Ferien die Luft herauslässt).
Es dauert ein wenig, ihn von den Hinterlassenschaften der schlecht erzogenen Reisenden zu befreien, dann ist er jedoch bereit, in Richtung der bretonischen Küste aufzubrechen. Mein Koffer ist ein Felsbrocken, stelle ich fest (zugegebenermaßen kann ich mich nie recht entscheiden, was ich einpacken soll, und deshalb schleppe ich schlussendlich wie eine Schnecke meinen gesamten Hausstand mit mir herum). Die Cremedosen habe ich in kleine durchsichtige Plastiktüten gesteckt, damit meine Kleider keine Fettflecken bekommen, falls sie auslaufen. Die Bücher habe ich wie Schutzschilde an die Seiten gestopft. Meine Schuhe stecken in weißen Wollbeuteln, und die Kleider habe ich mit Seidenpapier umwickelt. Drei Stunden hat es gedauert, bis ich einigermaßen zufrieden war. Dass er so schwer würde, hatte ich nicht bedacht beim Packen. Ächzend ziehe ich den Koffer in den Wagen hoch. Ein junger Hüne mit strubbeliger Mähne hilft mir, ihn in den Metallständer zu hieven, neben seinen mit Aufklebern übersäten Rucksack. Einen Moment lang komme ich mir wie eine alte Dame vor und denke an Mattia, an sein Nomadentum und an seine Begeisterung über meine Abreise.
»Korrekt, Mami, du kannst nicht dein ganzes Leben in der Buchhandlung zubringen. Erhol dich, echt«, hat er gesagt, statt gleich »sturmfreie Bude« zu brüllen, und mich dann großzügig und in ziemlich verräterischem Überschwang mit Küssen übersät.
»Ich bin doch nur fünf Tage weg«, habe ich entgegnet und so getan, als würde mich seine Euphorie treffen. Tatsächlich aber bin ich froh, Haus und Geschäft für kurze Zeit hinter mir lassen zu können.
Endlich fahren wir los. Mein Nachbar beißt in ein Schinken-Käse-Baguette und verschließt sich die Ohren mit dem Kopfhörer von seinem iPod (wohl um sich nicht unterhalten zu müssen). Dabei taucht an seinem Ärmelbündchen ein tätowierter Möwenflügel auf.
Ich bin in Frankreich. Wo mich die mit Vergangenheit durchtränkte Zukunft erwartet.
Nach den Häusern und Fabriken der Peripherie, die sich wie kleine Schachteln aneinanderreihen, nach riesigen Supermärkten mit optimistischen Leuchtschildern und kasernenartigen Hotels mit Glasfaserschwimmbecken zieht nun die reine Landschaft an uns vorbei, ein Temperagemälde in den Farben kandierter Früchte. Das Gelb ist so intensiv wie das von Sonnenblumen, der Himmel tiefblau, und das Grün der Blätter sieht aus wie ein glänzender Regenschirm, der sich um das Astwerk legt. Ich ziehe meine Schuhe aus und lege die Füße auf den freien Sitz gegenüber. Warum er dieses merkwürdige Ziel ausgewählt hat, habe ich Federico nicht gefragt. Ich habe einfach zugesagt, ohne mehr wissen zu wollen. In der Bretagne bin ich noch nie gewesen und hoffe, wie ich so aus dem Fenster sehe, dass ich die richtige Kleidung eingepackt habe.
Mein Blick schweift durch das Zugabteil, und ich kann nicht aus meiner Haut, stelle ich fest. Während Federico die Wirklichkeit durch die Linse des Architekten betrachtet, bleibe ich auch hier die Buchhändlerin: Eine unwiderstehliche Kraft treibt mich dazu aufzustehen, herumzugehe, auf die Buchseiten meiner Mitreisenden zu schielen, zu beobachten und zu klassifizieren.
In Wagen 3 wird gelesen, man telefoniert nicht. Ein flachsblonder Junge hat einen Comic auf dem Schoß liegen – Tim und Struppi -, der kleine Bruder drückt frenetisch auf den Tasten eines blauen Plastikgeräts herum, und die dazugehörige Mama blättert in einer Zeitschrift. Ein junger Mann mit pickligem Gesicht (Kanadier oder Amerikaner?) ist in die Seiten eines Sachbuchs vertieft,
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