Und immer wieder Liebe Roman
dessen vollständigen Titel ich nicht erkennen kann. Mein Gesicht hellt sich auf, als ich auf der Suche nach dem Speisewagen dem Blick einer jungen Frau begegne, die ihren rechten Ellbogen am Fenster aufgestützt hat und in der linken Hand ein zerfleddertes Exemplar von Bonjour tristesse hält. Diesen Typ Leserin erkenne ich auf den ersten Blick. Gierig verschlingen sie die Zeilen, vollkommen beherrscht vom Gefühl des frisch Verliebtseins oder von der bittersten Enttäuschung in der Liebe. Eine Frau, die heutzutage Sagan liest, könnte an einem Mädchengymnasium Französisch unterrichten. Oder eine heimliche Affäre haben und über ihre prekäre Rolle als Geliebte in innerem Aufruhr sein.
Drei Stunden, neununddreißig Minuten und einige Kapitel später wird der Zug langsamer. Wir fahren in den kleinen Bahnhof Auray ein. Meine Muskeln schmerzen, meine Beine kribbeln. Meine Arme, meine Gelenke, meine Sehnen, die mich in meiner Fantasie immer wie weiße Gummibänder zusammenhalten, und sogar meine Hirnzellen sind in wirre Fäden eingesponnen. Und dort, wo sich diese merkwürdige rote Faust namens Herz befindet, höre ich einen Höllenlärm und bete inständig, dass meine Mitreisenden taub sein mögen. Ich schaue mich um und stelle erleichtert fest, dass jeder mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt ist und niemand meine Aufregung zu bemerken scheint.
Du fährst lediglich mit einem Exfreund aus dem Gymnasium in den Urlaub. Damals wart ihr nur ein Jahr und sechzehn Tage zusammen.
Du warst so alt wie der junge Mann da. Und wie dein Sohn heute. Reg dich also ab.
Ohne den Kopfhörer abzunehmen, hilft mir der große Junge, den Koffer wieder herunterzuhieven. Ich möchte das Fenster öffnen und schreien: »Wisst ihr, wie viele Menschen auf dieser Erde sich in diesem Moment u-n-b-e-s-i-e-g-b-a-r fühlen?« Ob man wohl ausrechnen könnte, wie viele Personen – jetzt, hier, in diesem Moment – so glücklich sind wie ich? Mein Anschlusszug, von den Franzosen liebevoll »Tire-Bouchon« (wörtlich: Korkenzieher) genannt, wartet bereits. Und dann beginnt die letzte Etappe meiner Reise: Wir überqueren ein schmales Stück Land, rechts und links sieht man die Bucht und das Meer. Schließlich setzt mich das Bähnchen zweihundert Meter vom Hafen entfernt ab.
»Herzlich willkommen, Emma«, säuseln die Feen, die Freundinnen des Zauberers Merlin. Die Armen waren aus dem Wald von Broceliande verjagt worden, wo sie seit Menschengedenken im Mondlicht getanzt und ihr goldenes Haar in den heiligen Quellen gebadet hatten. Die Legende sagt, dass sich aus ihren Tränen der Golf von »Mor-bihan« speist und aus ihren Blumenkränzen, die sie in das Tränenwasser warfen, Inseln entstanden – so zahlreich wie die Tage eines Jahrs. Der Kranz der schönsten Fee wurde vom Wind auf den weiten Ozean hinausgetrieben und tanzte so lange ziellos auf den Wellen, bis sich die Felsen seiner erbarmten und ihm Schutz gewährten. So entstand die schönste aller Inseln, die Belle-Île en mer genannt wurde.
In Quiberon, einem Badeort für Reiche, ist die Saison bereits vorbei. Ich löse eine Fahrkarte und gehe zum Bootssteg. Mir bleibt noch wenig mehr als eine Stunde, um das Rauschen des Meeres zu genießen, das sich mit kleinen Schaumkronen schmückt und
den Rumpf der Locmaria 56 mit dem Klang eines verlockenden Versprechens umspült. Sechzig Minuten, um mich an die Vorstellung zu gewöhnen, dass ich meinen Urlaub mit einem nahezu Unbekannten verbringen werde, von dem ich nur weiß, dass er ein talentierter Briefeschreiber ist. Etwa zwanzig Leute sind an Bord, wenige, freudig erregte Passagiere. Die Sonne scheint ruhig, und am Himmel ist keine Wolke zu sehen. Wir legen ab.
Und wenn ihm etwas dazwischengekommen ist?
Jetzt wäre ein Handy gut, denke ich, einfach, um Gewissheit zu haben. Alles tanzt und schwankt auf den Wellen, und unweigerlich wird mir schlecht. In meinem Kopf dreht sich alles. Ich gehe unter Deck und setze mich (wie auch immer ich das anstelle). Ich muss ordentlich sitzen, die Hände im Schoß gefaltet, wenn es nicht schlimmer werden soll. Dabei komme ich mir vor wie eine dieser jungen Erbinnen aus dem letzten Jahrhundert, die nach einer amourösen Verstrickung von ihren erbosten Eltern auf Segelschiffe oder Dampfer verladen und ans Ende der Welt verfrachtet wurden. Ängstlich, blutleer, äußerst elegant, mit viel Gepäck und noch viel mehr Kummer im Herzen.
Nach fünfzig Minuten erscheint der Leuchtturm von Sauzon am
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