Und immer wieder Liebe Roman
und habe sie abgeholt. Statt der jungen Frau hockte ein Herr mit kleinem, faltigem Gesicht und Schlitzaugen hinter der Scheibe. Wer weiß, ob er gerne liest.
Mailand, den I. September 2002
Via Londonio 8
Lieber Federico,
danke, dass Du meinen Geburtstag übergangen hast, danke, dass Du mir nicht gratuliert und mein Postfach nicht mit Geschenken verstopft hast. Danke für Deine Sommerbriefe. Wieder daheim, habe ich nur einen einzigen Gedanken: Der Urlaub war zu kurz! Mit einundfünfzig fühle ich mich berechtigt, Verluste als solche zu empfinden, ohne Schuldgefühle zu haben. Ich habe ein Stadium erreicht, das mich zur Weisheit mahnt. Das Problem ist nur, dass ich nicht weiß, was das ist, Weisheit. Und Du, mein Schatz? Was passiert so in Madison?
Emma
P.S. Die üblichen Verdächtigen haben auf dem Marktplatz von Roussillon ein Fest organisiert. Alle haben getanzt, Urlauber und Einwohner. Der Walzer, zu dem Mattia mich aufgefordert hat, war nicht vollkommen frei von inzestuösen Nuancen, aber ich war froh, ihn in den Armen zu halten. Deine Abwesenheit habe ich nicht so stark empfunden __ manchmal hat die Beziehung zwischen Mutter und Sohn etwas sehr Ausschließliches.
New York, den 20. September 2002
470 Café Café, Broome St
Liebe Emma,
Cappuccino-Pause in Soho. Ich warte auf Sarah, der ich unvorsichtigerweise (was mein Portemonnaie angeht) einen Besuch im neuen Apple Store versprochen habe. In jedem europäischen Land, in jeder Stadt Europas gibt es »das Café«: in Venedig das Caffe Florian , das Caffe Greco in Rom, das Sacher in Wien, das Angelina und das Cafe de Flore in Paris, das Giubbe Rosse in Florenz. Berühmte Kaffeehäuser findet man auch in Osteuropa (in fast allen wichtigen Städten des ehemaligen österreichisch-ungarischen Reichs), in Nordeuropa, in Russland. Im Café spricht man über das alltägliche Leben, über Sport, Politik, Literatur und Kunst, man macht Geschäfte, schmiedet Komplotte oder liebt sich. Man schreibt Liebesbriefe. Ah, ich habe geschrieben, was ich jeden Tag denke. Sarah überquert die Straße, um sich mit ihrem Lieblingspapa zu treffen. Und ich muss den Briefumschlag schließen, um nicht aufzufliegen. Keine Ahnung, wie sie es auf nehmen würde. Doch, ich weiß es. Sie wäre sauer. Nicht wegen ihrer Mutter, mit der sie sich wegen jeder Kleinigkeit zankt, sondern meinetwegen. Sie mag keine Gefühle in meinem Leben, die nicht ihr gelten.
I miss you,
Federico
P.S. Schneller Brief. In Kürze folgt ein langer. Voller Zärtlichkeit.
Ich bin mit Michele am Flughafen. Mattia bricht auf. Zum offiziellen Rahmen fehlt nur noch der Fotoapparat, den ich in der
Tasche habe. Wenn ich es wagen würde, jemanden anzusprechen und zu fragen: »Entschuldigen Sie bitte, würden Sie ein Foto von uns machen?«, würde unser Sohn vor Scham im Erdboden versinken. Wie damals im Kindergarten, als ich seine Auftritte mit einer kleinen Videokamera gefilmt habe. Deshalb übe ich mich in Verzicht und beschränke mich auf das Objektiv des Herzens. Im Ehemann hatte ich mich geirrt, aber nicht in seiner Größe: Mattia ist heute ein einsfünfundachtzig Meter langer Grund für mütterlichen Stolz. Am Check-in von Qantas Airways wartet eine bescheidene Schlange. Ich hatte auf eine Riesenschlange für einen Abschied in Raten gehofft.
»Hast du ein Buch dabei? Und Extrastrümpfe? Du bekommst sonst eiskalte Füße, und der Flug ist lang.«
»Beruhige dich, Ma. Ich hab alles, sogar ein Buch. Der Fänger im Roggen. Das hast du mir vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt.«
Er wird acht Monate in Sydney sein, und wer weiß, ob wir es schaffen, ihn dort zu besuchen.
»Da scheint ewig die Sonne, Ma. Du hast doch diesen Tick mit der hellen Haut, das ist absolut nicht der richtige Ort für dich.«
Vierundzwanzig Stunden Flug, drei Zwischenlandungen, und am Ende ist er Tausende Meilen weg von mir.
»Okay, tschüss, Leute«, flüstert er, als würde er sich schämen. Er beugt sich zu einem letzten Küsschen zu mir herab. Ich spüre Ungeduld und Angst und traue mich nicht, ihm auch ein Küsschen auf die Wange zu drücken. Michele schweigt, aber es ist klar, dass er zu bewegt ist, um den Mund aufzumachen.
»Ich schreib euch, Leute. Und damit wird auch Mama sich endlich eine E-Mail-Adresse zulegen müssen.« Er grinst schief.
»Schreib an die Buchhandlung, wie immer. Alice druckt mir deine Mails aus.«
Er zieht einen roten Riesenkoffer hinter sich her, den er für
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