Und immer wieder Liebe Roman
zwanzig Euro im chinesischen Viertel gekauft hat, und stellt sich in die Schlange. Das Mädchen vor ihm ist ein Strich in der Landschaft. Sie trägt eine knallenge Jeans und ein T-Shirt, das ihr kaum bis zum Bauchnabel reicht, hat einen Pullover um die Hüfte gewickelt und einen Schildpattreif in den roten, bis auf den Hintern herabhängenden Locken. Mattia steht mit gesenktem Kopf da, schielt zu uns herüber und sieht wahnsinnig gut aus mit seinem Sweatshirt und den Turnschuhen mit den nur locker gebundenen Schnürsenkeln. Ohne Socken. »Wenn sie Australierin ist, wäre das schon mal ein guter Anfang«, sage ich und gebe mich großzügig, während mir aus dem linken Auge eine Träne tropft. Wie dümmlich diese Bemerkung gerade war, ist mir vollkommen egal. Michele gibt sich Mühe, mich abzulenken. Langsam kehren wir zum Auto zurück. Mattias Abwesenheit bedeutet nicht, dass auch wir Distanz halten müssten. Jetzt, da er die fünfzig überschritten hat, ist er ruhiger geworden. Er hat eine siebenunddreiϐigjährige Freundin, die ihn liebt.
Es ist Oktober, und doch zeigen die Bäume noch keinerlei Anzeichen für den Herbst. Er lässt mich unten an der Tür heraus.
»Verbarrikadiere dich jetzt nicht wie eine Nonne in deiner Wohnung«, bittet er.
»Meinst du, er kommt zurecht?«
»Er hat genug Geld, damit er nicht allzu schlecht leben muss. Wenn er die Kohle nicht vorzeitig ausgibt, wird er schon klarkommen. Spiel jetzt nicht die italienische Mama. Wir sollten stolz auf ihn sein. Denk doch an all die Söhne, die so tun, als würden sie sich über ihr Studium den Kopf zerbrechen, stattdessen aber heimlich an der Playstation hocken. Wir haben genau das Richtige getan. Vielleicht findet er ja in den nächsten Monaten heraus, was er will.«
Wie wird mein Leben nun sein, wenn nicht mehr überall Hemden und Boxershorts herumliegen und ich niemandem mehr sagen kann, dass es extra-dafür-einen-Korb-gibt-und-man-sichab-und-zu-mal-dazu-herablassen-könnte-den-auch-zu-benut- zen? Wie wird mein Leben sein, wenn sich nie wieder Bierflaschen auf dem Hängeboden seines Zimmers ansammeln? Und wenn ich sonntagmittags nie wieder geweckt werde, weil ein Schrei durch die Wohnung schallt: »Mama, was gibt’s zu essen?« Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll. Ich weiß nur, dass ich nicht die italienische Mama spielen möchte.
Ich beginne mit Der blinde Mörder von Margaret Atwood: »Zehn Tage nach Kriegsende stürzte meine Schwester Laura mit dem Auto von einer Brücke.« Wer auch immer da spricht, hat beschlossen, mit zweiundachtzig Jahren die stürmische, fast ein ganzes Jahrhundert einnehmende Geschichte ihrer Familie und die komplizierte Liebesgeschichte ihrer auf tragische Weise ums Leben gekommenen Schwester zu erzählen. Als Lesezeichen nehme ich den letzten Brief von Federico.
New York, den 12. Oktober 2002
Ort des Friedens Nr. 2, Paley Park
Liebe Emma,
soeben komme ich von Sarahs Schule, weil unsere Tochter Anna verboten hat, mit ihren Lehrern zu reden. Sie rebelliert zurzeit gegen ihre Mutter und behauptet, sie würde ihrem Ruf schaden. Dabei achtet Anna nur auf das, was im Unterricht passiert, und hatte eine Diskussion mit der Kunstlehrerin, weil sie sich auf diese Dinge selbst gut versteht. Ich halse mir die Rolle des Friedensstifters gerne auf und schaffe es sogar, die Mathematiklehrerin zu bezirzen, die einem Tim-Burton-Film entsprungen
zu sein scheint mit ihrem leichenblassen Gesicht und dem lilafarbenen Herzmund, ohne Sinn für Schönheit und Frohsinn. Die Jagd auf Orte des Friedens ist meine neue Leidenschaft. Der Paley Park ist ein kleiner städtischer Canyon mitTischchen für eine eilige Mahlzeit, wenn man in Midtown arbeitet, aber nicht die Lust oder die Zeit oder das Geld hat, sich in ein Restaurant zu begeben. Eingeschlossen zwischen all den Wolkenkratzern rauscht hier ein Wasserfall herab, ein echtes Paradox in diesem ganzen Verkehrslärm. Ich sitze auf der Steinstufe unter den fallenden Wassermassen, speise Hühnersuppe (schüttele Dich nicht, sie ist köstlich), trinke Coca-Cola und schreibe an Dich. Auf dem Weg hierher bin ich die Madison Avenue entlanggegangen und habe ein Hotel entdeckt, das mich verstärkt an Dich denken ließ. Ich würde Dich sofort dorthin bringen, aus verschiedenen Gründen, die mit Büchern zu tun haben, aber es verdient eine Beschreibung. Das Library Hotel wurde in einem anderen Gebäude aus dem zwanzigsten Jahrhundert errichtet, zwischen der New York Public
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