Und immer wieder Liebe Roman
York, den 1. Juli 2003
Ort des Friedens Nr. 6, Grumpy Café
224 W 20 th St
Liebe Emma,
dieser Sonntag steht unter dem Zeichen von Sonne und leichtem Wind. Nachdem ich auf der Baustelle war, mache ich nun
einen einsamen Spaziergang. Ich komme an der Nummer 222 der Dreiundzwanzigsten vorbei, am Chelsea Hotel. Es hat schon bessere Zeiten gesehen: abgeblättertes Tor, zwölf Stockwerke, düsterer Eingang. Rechts und links Gedenktafeln für die Künstler, die hier einst abgestiegen sind, manch einer gerade lange genug, um einen Song zu schreiben, manch einer auch ein Leben lang. Eine Frau geht hinein, fett und farbenfroh, eine Hippy-Oma mit einem violetten Schal um den Hals und auffälligen Ohrgehängen. Ihre Falten erzählen einen ganzen Roman. Sie lächelt mich an. Wer weiß, wie viele Töne sie gehört hat in diesen mit Teppichboden ausgelegten Fluren zu den Apartments, die man für 2000 Dollar im Monat mieten kann. Vielleicht hat sie mitbekommen, wie Sid Vicious seine Nancy erstach, vielleicht drangen aus Suite 2011 Stücke von Bob Dylan – als er seine sanften Balladen zur Gitarre sang, war ich noch ein Kind. Der Teppichboden steht für eine ganze Epoche, für die Sechziger- und Siebzigerjahre, als man sogar die edelsten Holzböden darunter verschwinden ließ. Hier wohnt man noch in den Apartments, die sich die Mieter nach ihren eigenen Vorstellungen einrichten, hier singt man, hier liebt man sich, ja, hier kocht man sogar. In diesem Haus überdauert der Mythos.
Ich betrete das Geschäft neben dem Chelsea, wo unsere Jugendträume fortzuleben scheinen: Dan’s Chelsea Guitar mit einem poppigen gelb-lila Schild. »Der Wert einer Gitarre hat selten etwas mit ihrem Preis zu tun«, steht dort. Ich kann nicht widerstehen und kaufe mir für 5250 Dollar eine Fernandes mit Verstärker, handsigniert von Bruce Springsteen. Daheim habe ich mich in mein Arbeitszimmer eingeschlossen und mit einem einzigen Griff dreißig Jahre abgelegt. Das war ein Heidenspaß. Ich habe seit gut und gerne zehn Jahren keine Gitarre mehr angerührt. Mein bevorzugtes Repertoire? Beatles, NewTrolls, Battisti
(eine kleine Reminiszenz an meine Jazzperiode), dann Pink Floyd, Genesis und Cat Stevens. Der Schmelz ist nicht mehr da, merke ich beim Spielen, aber wen stört das jetzt? Das wird schon wieder, mit ein bisschen Übung. Ich nehme die Gitarre und spiele etwas für Dich; schließ die Augen und höre den Freund Deiner Jugend. Paul Simon singt zum ersten Mal in der Carnegie Hall. 1967.
I was twenty-one years when I wrote this song
I’m twenty-two now but I won’t be for long
Time hurries on.
And the leaves that are green turn to brown,
And they wither with the wind,
And they crumble in your hand.
Once my heart was filled with love of a girl.
I held her close, but she faded in the night
Like the poem I meant to write.
And the leaves that are green turn to brown.
Mein Vermieter hat übrigens eine Sammlung von fantastischen Vinylplatten. Sie haben etwas von verstaubten Klangtagebüchern, finde ich, und sie sind wie alte Freunde. Die guten alten Schallplatten sind etwas ganz anderes als diese iPods von Sarah und Deinem Mattia, oder nicht?
Federico
P.S. Warum kann ich jetzt nicht mit Dir zusammen sein?
Fabrizio Lucchini betritt Lust&Liebe. Er ist plusminus dreißig, stranguliert sich beinahe selbst mit seiner erbarmungswürdigen gepunkteten Krawatte und macht auch sonst eine unglückliche Figur: Zum weißen Hemd trägt er ein marineblaues Sakko und Bundfaltenjeans mit Bügelfalte. Der junge Mann muss eine ziemlich altmodische Mutter haben. Zu einem »amerikanischen« Kaffee sagt er nicht nein, dazu verschlingt er ein ofenwarmes Croissant mit Himbeermarmelade.
»Als ich den zusammengefalteten Zettel in dieser Tüte fand, dachte ich, es handelt sich um eine neue Form von Bußgeld. Dann habe ich Ihren Appell gelesen, Signora, und musste ehrlich gesagt lachen. Plötzlich kam ich mir aber wie ein Trottel vor. Viele in unserem Büro haben auch so einen Zettel bekommen, und wir haben darüber gesprochen. Nehmen Sie es mir nicht übel, aber es wurde ganz schön geschimpft. Eine Kollegin hat gesagt, dass Sie das alles gar nicht beurteilen können, weil Sie den ganzen Tag bequem in Ihrem Laden hocken, während wir uns abrackern, aber am Ende waren alle überzeugt. Ich weiß nicht, was für einen Roman ich nehmen soll, er soll für meine Freundin sein.«
»Was für ein Typ ist Ihre Freundin denn, Signor Lucchini?«
»Sagen Sie einfach
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