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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruta Sepetys
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Seine Scheinwerferkegel streiften den Waggon, und in ihrem Licht sah ich Andrius. Sein Gesicht war zerschlagen und blau angelaufen. Seine Augen waren dick geschwollen. Sein Hemd war voller Blut, seine Lippen aufgerissen. Ich kniete mich neben ihn.
    »Kannst du gehen?«
    »So halbwegs«, sagte er.
    Ich hielt Ausschau nach den Wachmännern. Sie hatten sich vier Waggons weiter versammelt und rauchten. Ich klopfte leise gegen den Boden neben dem Abortloch. Das Gesicht der mürrischen Frau erschien. Sie machte große Augen.
    »Andrius ist wieder da. Wir müssen ihn in den Waggon schaffen.«
    Sie starrte mich an.
    »Hören Sie?«, flüsterte ich. »Sie müssen ihn hochziehen. Na los!«
    Ihr Gesicht verschwand. Ich hörte ein Rumpeln im Waggon und sah zu den Wachleuten. Dann legte ich mir Andrius’ blutigen Arm über die Schultern und packte ihn bei der Taille. Wir standen auf und schlichen zur Tür. Der grauhaarige Mann erschien und gebot uns zu warten. Andrius sank auf meine Schulter. Er war so schwer, dass ich einknickte. Ich wusste nicht, wie lange ich ihn halten konnte.
    »Jetzt!«, sagte der grauhaarige Mann. Ich stieß Andrius zur Tür, und der Mann zog ihn mit Hilfe der anderen hinein.
    Ich blickte wieder zu den Wachleuten. Gerade, als ich auch hineinklettern wollte, setzten sie sich in Bewegung und kamen auf mich zu. Ich sah mich verzweifelt um. Dann schlüpfte ich unter den Waggon, packte das Gestänge, hob die Beine und drückte mich gegen die Unterseite. Die Männer näherten sich dem Rad, hinter dem ich mich verbarg. Sie unterhielten sich auf Russisch. Ein Streichholz zischte und seine Flamme erhellte kurz die Stiefel der leise plaudernden Männer. Ich kniff die Augen zu. Meine Arme begannen zu zittern, denn ich hielt mich mit aller Kraft fest. Geht weiter.
    Meine Hände wurden feucht und drohten abzurutschen. Nun geht schon. Ein heißes Brennen ging durch meine Muskeln und Sehnen. Sie redeten weiter. Bitte. Ich biss auf meine Lippe. Geht endlich. Ein Hund kläffte. Die Wachmänner gingen in seine Richtung davon.
    Mutter und der grauhaarige Mann zogen mich hinauf. Ich sank in der offenen Tür zu Boden, rang um Atem. Das kleine Mädchen mit der Puppe legte sich einen Finger auf die Lippen und nickte.
    Ich betrachtete Andrius. Seine Mundwinkel waren verschorft. Sein Unterkiefer war geschwollen. Ich hasste sie, diese NKWD-Schergen und Sowjets. Ich pflanzte einen Samen des Hasses in mein Herz und schwor, dass er zu einem großen Baum heranwachsen würde, dessen Wurzeln alle Feinde erwürgten.
    »Wie können sie so etwas tun?«, fragte ich. Ich sah mich im Waggon um. Alle schwiegen. Wie konnten wir füreinander einstehen, wenn sich alle ängstlich duckten und den Mund nicht aufbekamen?
    Ich musste reden. Ich würde alles aufschreiben, alles zeichnen. So konnte ich Zeugnis von dem ablegen, was geschah. Ich würde Papa helfen, uns wiederzufinden.
    Andrius legte sich bequemer hin. Ich sah auf ihn hinab.
    »Danke«, flüsterte er.

15
    Ich schrak neben Jonas und Andrius aus dem Schlaf. Man hatte die Tür des Waggons geschlossen und verriegelt. Die Leute wurden panisch.
    Die Lokomotive stand unter Dampf, der zischend entwich.
    »Nur bewegen, wenn es nicht anders geht«, befahl Fräulein Grybas. »Die Ecke mit dem Abortloch muss auf jeden Fall frei bleiben.«
    »Erzählen Sie uns eine Geschichte, Frau Bücherwurm?«, fragte das kleine Mädchen mit der Puppe.
    »Mama«, wimmerte ein Stimmchen. »Ich habe Angst. Bitte mach Licht.«
    »Hat jemand eine Laterne?«, fragte eine Frau.
    »Aber natürlich, Dummerchen. Ich habe sogar noch ein Vier-Gänge-Menü in der Tasche«, erwiderte der Glatzkopf.
    »Herr Stalas«, sagte Mutter. »Bitte! Hier gibt jeder sein Bestes.«
    »Mädchen«, herrschte er mich an. »Wirf einen Blick durch den Spalt und sag uns, was du siehst.«
    Ich krabbelte zur Vorderseite des Waggons und zog mich hoch.
    »Die Sonne geht auf«, sagte ich.
    »Lass den poetischen Quatsch«, fauchte der Glatzkopf. »Was geht draußen vor?«
    Wieder zischte Dampf, dann war ein Rumpeln zu hören.
    »Bewaffnete NKWD-Leute gehen am Zug entlang«, sagte ich. »Und ein paar Männer in dunklen Anzügen überprüfen die Waggons.«
    Dann spürten wir einen Ruck, und der Zug fuhr an.
    »Überall Gepäck«, sagte ich. »Und auf dem Bahnsteig steht jede Menge Proviant.« Ein paar Leute stöhnten. Der Bahnhof wirkte unheimlich, verlassen und wie erstarrt. Man sah nur noch die Überreste des Chaos, das sich abgespielt hatte. Einzelne

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