Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruta Sepetys
Vom Netzwerk:
Schuhe lagen herum, eine offene Damenhandtasche, ein Stock, ein verwaister Teddybär.
    »Wir verlassen den Bahnhof«, berichtete ich. Ich reckte den Kopf, um in die Fahrtrichtung schauen zu können. »Da sind Leute«, sagte ich. »Ein Priester. Er betet. Ein Mann hält ein großes Kruzifix.«
    Der Priester hob den Kopf, versprühte Öl und schlug das Kreuz, während unser Zug an ihm vorbeirollte.
    Es war, als nähme er die Letzte Ölung vor.

16
    Ich blieb am Spalt stehen und erzählte allen, was ich sah. Der Fluss Nemunas, die großen Kirchen, die Gebäude, die Straßen, die Bäume, an denen wir vorbeikamen. Die Leute schluchzten. Litauen war nie schöner gewesen. Bunte Blumen leuchteten prachtvoll in der Junilandschaft. Wir rollten durch das Land, in Waggons, auf denen »Diebe und Huren« stand.
    Nach zwei Stunden verlangsamte sich die Fahrt.
    »Wir fahren in einen Bahnhof«, sagte ich.
    »Was steht auf dem Schild?«, fragte der Glatzkopf.
    Ich wartete, bis der Zug ein Stück weitergefahren war. »Vilnius. Wir sind in … Vilnius«, sagte ich leise.
    Vilnius, die Hauptstadt Litauens. Wir hatten im Geschichtsunterricht gelernt, dass Großherzog Gediminas vor sechshundert Jahren von einem eisernen Wolf geträumt hatte, der hoch oben auf einem Hügel stand. Ein Priester, den er um die Deutung des Traums bat, erklärte ihm, dass der eiserne Wolf eine große und prächtige Stadt symbolisiere, eine aufstrebende Stadt.
»Kann ich kurz mit dir sprechen, Lina?«
Die letzten Klassenkameradinnen verließen den Raum. Ich ging zum Lehrerpult.
»Offenbar ziehst du die Geselligkeit dem Lernen vor, Lina«, sagte die Lehrerin und öffnete eine vor ihr liegende Mappe. Mir blieb das Herz stehen. Die Mappe enthielt Botschaften, die ich an Klassenkameradinnen geschrieben hatte, und dazugehörige Skizzen. Ganz oben lagen ein griechischer Akt und ein Porträt meines gutaussehenden Geschichtslehrers. »Ich habe dies im Papierkorb gefunden. Ich habe mit deinen Eltern gesprochen.«
Meine Hände wurden feucht. »Ich habe den Akt aus einem Band kopiert, den ich aus der Bücherei …«
Sie gebot mir mit erhobener Hand zu schweigen. »Aber du scheinst nicht nur sehr gesellig, sondern auch künstlerisch hochbegabt zu sein. Deine Porträts sind …« – sie verstummte und drehte die Zeichnung zu mir hin – »… faszinierend. Sie strahlen eine Gefühlstiefe aus, für die du eigentlich noch viel zu jung bist.«
»Danke«, hauchte ich.
»Ich bin der Ansicht, dass wir deine Begabung hier nicht gebührend fördern können. Aber in Vilnius gibt es einen Sommerkurs.«
»In Vilnius?«, fragte ich. Eine Fahrt nach Vilnius dauerte mehrere Stunden.
»Ja, in Vilnius. Du wirst nächstes Jahr sechzehn, und dann darfst du teilnehmen. Wenn du angenommen wirst, studierst du mit einigen der begabtesten Künstler Nordeuropas. Würde dich das reizen?«
Ich musste meine Aufregung hinunterschlucken, um etwas erwidern zu können. »Ja, Frau Pranas, das würde es.«
»Dann möchte ich dich empfehlen. Du musst eine Bewerbung ausfüllen und zur Probe einige Zeichnungen einreichen«, sagte sie und gab mir die Mappe mit den Zetteln und Skizzen. »Wir schicken sie so bald wie möglich nach Vilnius.«
»Vielen Dank, Frau Pranas!«, sagte ich.
Sie lehnte sich lächelnd auf dem Stuhl zurück. »Es ist mir eine Freude, Lina. Du bist begabt. Eine erfolgreiche Zukunft liegt vor dir.«
    Irgendjemand entdeckte ein loses Brett in der Rückwand hinter dem Gepäck. Jonas kroch hin und ruckelte es heraus.
    »Was siehst du?«
    »Da steht ein Mann zwischen den Bäumen«, sagte Jonas.
    »Partisanen«, sagte der Glatzkopf. »Sie wollen uns helfen. Du musst ihn auf uns aufmerksam machen.«
    Jonas schob die Hand durch das Loch und versuchte zu winken.
    »Er kommt«, flüsterte Jonas. »Psst!«
    »Sie koppeln die Waggons mit den Männern ab«, sagte eine Männerstimme. »Sie trennen den Zug.« Er rannte zurück in den Wald.
    In der Ferne krachten immer wieder Schüsse.
    »Wohin bringen sie die Männer?«, fragte ich.
    »Vielleicht fahren die Männer nach Sibirien«, antwortete Frau Rimas. »Und wir fahren woandershin.«
    Wenn Papa nach Sibirien fuhr, wollte ich auch dorthin.
    Metall dröhnte und kreischte. Man trennte den Zug. Aber wir konnten noch etwas anderes hören.
    »Hört nur«, sagte ich. »Die Männer.« Sie sangen laut und immer lauter. Sie sangen aus voller Brust. Andrius stimmte ein, dann mein Bruder und der grauhaarige Mann. Schließlich sang auch der Glatzkopf die

Weitere Kostenlose Bücher