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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruta Sepetys
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Nationalhymne mit: Litauen, Land der Helden …
    Ich weinte.

17
    Die Männer hatten stolz und selbstbewusst geklungen. Väter, Brüder, Söhne, Ehemänner. Wohin wurden sie gebracht? Und wohin fuhren wir , ein Waggon voller Frauen, Kinder, alter und kranker Menschen?
    Ich wischte meine Tränen mit dem Taschentuch ab und reichte es weiter. Nachdem ich es zurückerhalten hatte, betrachtete ich es lange. Im Gegensatz zu Papier konnte das Taschentuch von Hand zu Hand gehen, ohne zu zerfleddern. Ich würde etwas für Papa darauf zeichnen.
    Während ich über einen Plan nachdachte, machten sich die Frauen im Waggon Gedanken um den Säugling, der nicht trinken wollte.
    Frau Rimas drängte Ona, es weiter zu versuchen. »Na, nun machen Sie schon, meine Liebe.«
    »Was ist denn los?«, fragte meine Mutter aus dem Dunkel des Waggons.
    »Ona hat keine Milch«, antwortete Frau Rimas. »Sie ist zu ausgedörrt. Das Kind mag nicht an die Brust.«
    Frau Rimas bemühte sich, aber nichts schien zu helfen.
    Wir fuhren tagelang und hielten dann mitten im Nirgendwo. Der NKWD wollte sicherstellen, dass wir weder gesehen wurden noch fliehen konnten. Wir fieberten dem täglichen Halt entgegen, weil dann endlich die Tür geöffnet wurde und Licht und frische Luft hereinkamen.
    »Eine Person! Zwei Eimer! Gibt es Tote?«, fragte der Wachmann jedes Mal.
    Wir hatten beschlossen, uns abzuwechseln. So bekam jeder die Möglichkeit, einmal aus dem Waggon zu steigen. Heute war ich an der Reihe. Ich hatte vom blauen Himmel und von der Sonne auf meinem Gesicht geträumt. Aber dann hatte Regen eingesetzt. Jeder von uns steckte Tassen oder andere Behälter aus dem schmalen Schlitz, um Regenwasser aufzufangen.
Ich schloss den Regenschirm und schüttelte ihn auf dem Bürgersteig aus. Ein Herr im Anzug, der gerade ein Restaurant verließ, wich den Tropfen aus, die ich versprühte.
»Oh! Tut mir leid, mein Herr!«
»Schon gut, Fräulein«, erwiderte er, nickte und tippte gegen seine Hutkrempe.
Düfte nach Bratkartoffeln und Gewürzfleisch drangen aus dem Restaurant. Die Sonne zeigte sich, ließ den Asphalt golden glitzern und wärmte meinen Hinterkopf. Herrlich – das Konzert heute Abend im Park würde also stattfinden. Mutter wollte einen Korb für ein Picknick im Mondschein packen.
Während ich den Regenschirm zusammenfaltete und das Bändchen schloss, erschrak ich, weil mich aus der Pfütze vor meinen Füßen ein Gesicht anstarrte. Ich lachte über meine Verwirrung, lächelte mich in der Pfütze an. Ihr Rand glänzte im Sonnenschein und bildete einen hübschen Rahmen für mein Gesicht. Ich hätte gern ein Foto gemacht, um das Bild später zeichnen zu können. Auf einmal erschien ein fahler Schatten in der Pfütze hinter meinem Kopf. Ich drehte mich um. Ein pastellfarbener Regenbogen spannte sich zwischen den Wolken.
    Der Zug wurde langsamer. »Beeilung, Lina. Hast du die Eimer?«, fragte Mutter.
    »Ja.« Ich trat näher an die Tür. Nach dem Halt des Zuges wartete ich auf die Geräusche. Stiefeltritte und Rumpeln. Dann wurde die Tür aufgerissen.
    »Eine Person! Zwei Eimer! Gibt es Tote?«
    Ich schüttelte den Kopf, wollte unbedingt hinaus. Die Wache trat beiseite, und ich sprang. Doch meine Beine waren so steif, dass ich in den Matsch fiel.
    »Alles in Ordnung, Lina?«, rief Mutter.
    »Dawai!«, brüllte der Wachmann, fügte noch einige russische Kraftausdrücke hinzu und spuckte mich an.
    Ich stand auf und ließ den Blick am Zug entlanggleiten. Der Himmel war grau. Es regnete unaufhörlich. Ich hörte einen Schrei und sah, wie man ein lebloses Kind in den Matsch warf. Eine Frau wollte dem Leichnam nachspringen. Sie bekam einen Kolbenstoß ins Gesicht. Dann wurde noch ein lebloser Körper aus einem Waggon geworfen. Der Tod forderte allmählich seinen Tribut.
    »Nicht bummeln, Lina«, schärfte mir der grauhaarige Mann ein. »Spute dich mit den Eimern.«
    Es war wie in einem Fiebertraum. Mir schwirrte der Kopf, und ich schwankte. Ich nickte und sah zu unserem Waggon auf. Mehrere Köpfe, die wie aufeinandergestapelt aussahen, blickten auf mich herab.
    Ihre Gesichter waren dreckig. Andrius rauchte eine Zigarette und sah in die andere Richtung. Sein Gesicht war noch lange nicht verheilt.
    Urin strömte aus dem Boden des Waggons. Drinnen schrie Onas Kind. Ich sah ein nasses grünes Feld. Na los , schien es zu rufen, lauf weg .
    Ja, vielleicht, dachte ich. Lauf, Lina.
    »Was hat sie denn?« Die Leute im Waggon begannen durcheinanderzureden.
    Lauf, Lina.
    Da

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