Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
wurden mir die Eimer aus der Hand gerissen. Andrius ging mit ihnen davon. Ich stand wie angewurzelt da und starrte auf das Feld.
»Komm wieder rein, Lina«, bat Mutter.
Ich schloss die Augen. Spürte den Regen auf Haaren und Haut. Ich hatte Papa vor Augen, der durch das von einem Streichholz erhellte Loch in seinem Waggon schaute. Ich werde wissen, dass du es bist … so wie man ein Bild von Munch erkennt.
»Dawai!«
Ein NKWD-Mann ragte über mir auf. Sein Atem stank nach Schnaps. Er packte meine Arme und zerrte mich zum Zug.
Andrius kehrte mit den Eimern zurück, Wasser und graues Viehfutter. »Na, wie war dein Bad?«, fragte er.
»Was hast du draußen gesehen, Mädchen?«, wollte der Glatzkopf von mir wissen.
»Ich … ich habe gesehen, wie der NKWD zwei Tote aus dem Zug in den Matsch geworfen hat. Zwei Kinder.« Die Leute keuchten entsetzt auf.
Dann wurde die Tür unseres Waggons zugeknallt.
»Wie alt waren die toten Kinder?«, fragte Jonas leise.
»Weiß nicht. Ich habe sie nur von weitem gesehen.«
Mutter kämmte mein nasses Haar im Dunkeln.
»Ich wollte weglaufen«, flüsterte ich.
»Das verstehe ich sehr gut«, erwiderte sie.
»Wirklich?«
»Verständlich, dass man fliehen will, Lina. Aber wir müssen zusammenbleiben, wie dein Vater gesagt hat. Das ist sehr wichtig.«
»Wie kommen sie dazu, uns wie Tiere zu behandeln? Sie kennen uns doch gar nicht«, sagte ich.
»Aber wir kennen uns«, antwortete Mutter. »Und sie irren sich. Lass dir ja nicht weismachen, dass es recht ist, wie man uns behandelt. Hast du mich verstanden?«
Ich nickte. Aber ich wusste, dass manche Leute schon gebrochen waren. Ich sah, wie sie mit hoffnungslosem Gesichtsausdruck vor den Wachleuten kuschten. Ich wollte sie alle zeichnen.
»Als ich zu unserem Waggon aufgeschaut habe, sahen alle krank aus«, sagte ich.
»Oh, nein«, erwiderte Mutter. »Wir sind nicht krank. Wir sind bald wieder zu Hause. Wenn die restliche Welt herausfindet, was die Sowjets tun, wird man ihnen einen Riegel vorschieben.«
Ob Mutter Recht hatte?
18
Wir waren noch gesund, aber andere waren krank. Beim täglichen Halt des Zuges sahen wir aus dem Waggon, um die Leichen zu zählen, die man hinauswarf. Ihre Zahl wuchs mit jedem Tag. Mir fiel auf, dass Jonas die toten Kinder zählte, indem er mit einem Stein Striche auf dem Boden zog. Ich stellte mir vor, kleine Gesichter über die Striche zu zeichnen – Haare, Augen, Nase und Mund.
Die Leute schätzten, wie lange wir schon nach Osten fuhren. Der Posten am kleinen Fenster gab Bescheid, wenn der Zug an Schildern oder anderen Hinweisen vorbeikam. Ich hatte taube Füße, weil der Holzfußboden so stark vibrierte. Der Gestank ließ mir den Kopf schwirren, und es juckte überall. Läuse saßen auf meinem Scheitel, hinter den Ohren, unter den Achseln.
Wir hatten Vilnius, Minsk, Orscha und Smolensk passiert. Ich notierte den Namen jeder Stadt mit Tinte auf meinem Taschentuch. Wenn die Tür geöffnet wurde, fügte ich weitere Details und wichtige Hinweise hinzu, die Papa kannte – unsere Geburtstage, die Zeichnung eines vilkas , also Wolfes. Ich benutzte nur die Mitte des Tuchs und zeichnete einen Kreis aus Händen, die sich mit den Fingern berührten. Darunter schrieb ich »Immer weiter« und fügte das Bild einer litauischen Münze hinzu. Man konnte die Schrift nicht sehen, wenn das Taschentuch zusammengefaltet war.
»Du zeichnest?«, flüsterte der grauhaarige Mann, der gerade seine Uhr aufzog.
Ich erschrak.
»Ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte er. »Ich behalte es für mich.«
»Ich muss meinen Vater benachrichtigen«, sagte ich leise. »Damit er uns finden kann. Ich habe vor, das Taschentuch weiterzugeben, und vielleicht erreicht es ihn irgendwann.«
»Sehr schlau«, erwiderte er.
Er war immer freundlich gewesen. Konnte ich ihm trauen? »Ich muss es jemandem geben, der seine Bedeutung begreift und es weiterreicht.«
»Ich könnte dir helfen«, sagte er.
Wir waren acht Tage gefahren, als der Zug auf einmal langsamer wurde.
Jonas stand am schmalen Fensterschlitz. »Da drüben kommt ein Zug aus der entgegengesetzten Richtung. Er hat angehalten.«
Auch wir wurden immer langsamer.
»Wir fahren neben den Zug. Er ist voller Männer. Ihre Waggons sind offen«, berichtete Jonas.
»Männer?«, fragte Mutter. Sie eilte zum Fensterschlitz, schob Jonas weg und rief etwas auf Russisch. Die Männer antworteten. Mutters Stimme wurde energischer. Sie redete immer schneller, holte zwischen den
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