Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
Fragen rasch Luft.
»Um Himmels willen, Weib«, sagte der Glatzkopf. »Hören Sie endlich auf mit dem Geplapper. Erzählen Sie uns lieber, was los ist. Wer sind die Männer?«
»Soldaten«, antwortete Mutter begeistert. »Sie fahren an die Front. Es herrscht Krieg zwischen Deutschland und der Sowjetunion. Die Deutschen sind in Litauen einmarschiert. Hört ihr?«, rief sie. »Die Deutschen sind in Litauen!«
Das hob die Moral schlagartig. Andrius und Jonas johlten und schrien. Fräulein Grybas stimmte das Lied »Lasst mich zurückkehren in mein Heimatland« an. Die Leute umarmten einander und jubelten.
Nur Ona blieb stumm. Ihr Kind war gestorben.
19
Der Zug mit den russischen Soldaten fuhr weiter. Man öffnete die Tür, und Jonas sprang mit den Eimern hinaus.
Ich sah zu Ona. Sie drückte das tote Kind an ihre Brust.
»Nein«, sagte sie durch zusammengebissene Zähne. »Nein. Nein.«
Mutter ging zu ihr. »Ach, meine Liebe, es tut mir ja so leid.«
»Nein!«, schrie Ona, die ihr Kind an sich presste.
In meinen trockenen Augen brannten Tränen.
»Warum heulen Sie?«, meckerte der Glatzkopf. »Sie wussten doch, dass es so kommen würde. Was hätte Ihr Kind denn essen sollen? Läuse? Ihr seid alle Idioten. Werft das Kind aus dem Zug. Ihm geht es besser als uns. Wenn ihr unbedingt am Leben bleiben wollt, solltet ihr mich nach meinem Tod essen. Das wäre klug.«
Er meckerte weiter, keifend und schrill. Ich konnte ihn kaum noch verstehen. Seine Stimme dröhnte in meinen Ohren. Mein Herz hämmerte heftig und trieb das Blut in meinen Kopf.
»Verdammt!«, brüllte Andrius und sprang auf den Glatzkopf zu. »Wenn du nicht gleich den Mund hältst, Alter, reiße ich deine Zunge heraus. Im Ernst. Ich werde noch brutaler sein als die Sowjets.« Niemand wandte etwas ein oder versuchte, Andrius zu bändigen. Nicht einmal Mutter. Ich war so erleichtert, als hätte ich die Worte gesprochen.
»Du denkst immer nur an dich«, fuhr Andrius fort. »Wenn die Deutschen die Sowjets aus Litauen vertrieben haben, werden wir dich hier auf den Gleisen lassen, damit wir dich endlich los sind.«
»Du verstehst nicht, Junge. Die Deutschen werden uns nicht helfen. Hitler wird noch mehr Unheil bringen«, murmelte der Glatzkopf. »Diese verfluchten Listen.«
»Wir wollen nichts mehr hören, kapiert?«
»Bitte geben Sie mir das Kind, liebe Ona«, sagte Mutter.
»Sie dürfen mein Mädchen nicht in die Hände bekommen«, flehte Ona. »Bitte.«
»Wir übergeben sie nicht den Wachleuten, das verspreche ich«, sagte Mutter. Sie untersuchte den Säugling ein letztes Mal auf Herzschlag und Atem. »Wir werden sie in etwas Schönes wickeln.«
Ona schluchzte. Ich ging zur Tür, um Luft zu schnappen. Jonas kehrte mit den Eimern zurück.
»Warum weinst du?«, fragte er, als er in den Waggon stieg.
Ich schüttelte nur den Kopf.
»Was ist denn?«, hakte er nach.
»Der Säugling ist tot«, antwortete Andrius.
»Unser kleines Kindchen?«, fragte Jonas ganz leise.
Andrius nickte.
Jonas stellte die Eimer ab. Er sah erst zu Mutter, die das Bündel in den Armen hielt, und danach zu mir. Er kniete sich hin, zog den kleinen Stein aus der Tasche, zog einen weiteren Strich und blieb eine Weile reglos sitzen. Plötzlich schlug er mit dem Stein auf die Striche ein, heftig und immer heftiger. Er hämmerte so wild auf die Fußbodenbretter, dass ich glaubte, er würde sich die Hand brechen. Ich wollte zu ihm gehen, doch Andrius hielt mich zurück.
»Lass ihn«, sagte er.
Ich sah ihn unsicher an.
»Er muss sich daran gewöhnen«, sagte Andrius.
Woran gewöhnen? An das Gefühl unendlicher Wut? Oder an diese Traurigkeit, so tief, als wäre man ausgeweidet worden und müsste seine Innereien wieder aus einem dreckigen Eimer essen?
Ich betrachtete Andrius, dessen Gesicht immer noch nicht ganz verheilt war. Er bemerkte meinen Blick. »Hast du dich denn daran gewöhnt?«, fragte ich.
Seine Kiefermuskeln zuckten. Er zog eine Zigarette aus der Tasche und zündete sie an. »Klar«, antwortete er und pustete eine Rauchfahne in die Luft. »Ich habe mich daran gewöhnt.«
Die Leute diskutierten über den Krieg und fragten sich, wie die Deutschen uns retten konnten. Der Glatzkopf schwieg ausnahmsweise. Ob es stimmte, was er über Hitler gesagt hatte? Tauschten wir Stalins Hammer und Sichel gegen etwas noch Schlimmeres? Das mochte hier niemand glauben. Papa hätte es gewusst. Er wusste in solchen Dingen immer Bescheid, hatte mit mir aber nie darüber gesprochen. Nur
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