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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruta Sepetys
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mit Mutter. Ich hatte nachts manchmal gehört, wie sie in ihrem Zimmer geflüstert hatten. Und ich wusste, dass die Sowjets das Thema gewesen waren.
    Ich dachte an Papa. Wusste er von den deutschen Soldaten? Wusste er, dass wir alle Läuse hatten? Wusste er, dass wir einen toten Säugling in unserer Mitte hatten? Ahnte er, wie sehr ich ihn vermisste? Ich umklammerte das Taschentuch, das in meiner Tasche steckte, und stellte mir Papas lächelndes Gesicht vor.
»Stillhalten!«, rief ich.
»Es hat mich gejuckt«, erwiderte mein Vater grinsend.
»Unsinn. Du willst mir die Sache nur erschweren«, scherzte ich und versuchte, den Blick seiner strahlend blauen Augen festzuhalten.
»Ich stelle dich auf die Probe. Ein wahrer Künstler muss den Augenblick einfangen können«, sagte er.
»Aber wenn du nicht stillhältst, werden deine Augen schief«, wandte ich ein und schattierte eine Seite seines Gesichts mit dem Bleistift.
»Sie sind sowieso schief«, sagte er und schielte. Ich lachte.
»Was gibt es Neues bei deiner Cousine Joana?«, fragte er.
»Im Moment gar nichts. Ich habe ihr eine Zeichnung der Hütte in Nida geschickt, die ihr im letzten Sommer so gut gefallen hat. Aber sie hat nicht geantwortet. Mutter meint, sie habe meinen Brief bekommen, müsse aber viel lernen.«
»Stimmt«, sagte Papa. »Sie will Ärztin werden.«
Das wusste ich. Joana sprach oft über Medizin und ihren Wunsch, später einmal Kinderärztin zu werden. Wenn ich zeichnete, unterbrach sie mich immer mit Ausführungen über die Sehnen meiner Finger oder die Gelenke. Und wenn ich niesen musste, ratterte sie eine ganze Liste ansteckender Krankheiten herunter, die mich in kürzester Zeit ins Grab befördern konnten. Im letzten Sommer hatte sie während unseres Urlaubs in Nida einen Jungen kennengelernt. Ich war immer lange wach geblieben, um mir alle Einzelheiten ihrer Rendezvous erzählen zu lassen. Sie war zwar erst siebzehn, aber schon sehr weise und erfahren, und außerdem besaß sie ein faszinierendes Anatomiebuch.
»So«, sagte ich, nachdem die Zeichnung fertig war. »Wie findest du es?«
»Was ist das da?«, fragte mein Vater und zeigte auf das Papier.
»Meine Signatur.«
»Deine Signatur? Das ist ja Gekritzel. Niemand wird darin deinen Namen erkennen.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Du aber schon«, sagte ich.

20
    Wir fuhren immer weiter nach Osten und durchquerten das Uralgebirge. Fräulein Grybas erklärte, dass es die Grenze zwischen Europa und Asien war. Wir befanden uns jetzt in Asien, auf einem anderen Kontinent. Die Leute meinten, wir würden nach Südsibirien fahren, vielleicht sogar nach China oder in die Mongolei.
    Wir versuchten drei Tage, Onas Kind hinauszuschmuggeln, aber wenn die Tür offen war, hielt sich immer ein Wachmann in der Nähe auf. Der Verwesungsgestank war im heißen Waggon unerträglich. Mir wurde schlecht davon.
    Schließlich konnte Ona überredet werden, ihr Kind durch das Abortloch zu werfen. Sie kniete schluchzend über dem Loch, den Säugling im Arm.
    »Um Gottes willen«, stöhnte der Glatzkopf. »Erlösen Sie uns von dem Ding. Ich kann kaum noch atmen.«
    »Seien Sie still!«, schrie Mutter.
    »Ich kann nicht«, wimmerte Ona. »Sie wird auf den Schienen zerschmettern.«
    Mutter ging auf Ona zu. Doch Fräulein Grybas war schneller, entriss Ona das Bündel und warf es hinaus. Ich keuchte entsetzt auf. Frau Rimas weinte.
    »So«, sagte Fräulein Grybas. »Geschafft. Für Unbeteiligte ist das einfacher.« Sie wischte sich die Hände am Kleid ab und richtete ihren Dutt. Ona sank in Mutters Arme.
    Jonas verbrachte fast jede Minute mit Andrius. Er war nicht mehr der süße kleine Junge, sondern wirkte immer wütend. Andrius hatte ihm einige umgangssprachliche russische Ausdrücke beigebracht, wie sie auch die NKWD-Leute benutzten. Das machte mich rasend. Ich wusste zwar, dass auch ich irgendwann etwas Russisch lernen musste, aber schon der Gedanke daran weckte meinen Zorn.
    Eines Abends sah ich, wie Jonas’ Gesicht von der Glut einer Zigarette erhellt wurde. Ich beschwerte mich bei Mutter, aber sie meinte, ich solle ihn in Ruhe lassen.
    »Ich danke Gott jeden Abend dafür, dass er Andrius hat, Lina, und du solltest das auch tun«, sagte sie.
    Mein Magen schien sich selbst aufzufressen. Manchmal überfiel mich ein gnadenloser Hunger. Obwohl Mutter sich darum bemühte, einen bestimmten Tagesablauf einzuhalten, verlor ich mein Zeitgefühl und döste tagsüber.
    »Was soll das? Seid ihr verrückt geworden?«, kreischte

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