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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruta Sepetys
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übersetzte, während Komorow auf dem Tisch saß und ein Bein baumeln ließ.
    »Wir stehen unter Anklage laut Artikel 58 des sowjetischen Strafgesetzbuches«, teilte Mutter uns mit. »Man wirft uns konterrevolutionäre Umtriebe gegen die UdSSR vor.«
    »Darauf stehen keine fünfundzwanzig Jahre«, murmelte der Glatzkopf.
    »Sagen Sie ihm, dass wir nach Kräften für sie arbeiten werden, aber nicht zu einer Unterschrift bereit sind«, sagte Herr Lukas.
    »Wir sollen sofort unterschreiben«, übersetzte Mutter.
    »Ich unterschreibe kein Formular, das mich zu fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt«, sagte Fräulein Grybas.
    »Ich auch nicht«, sagte ich.
    »Und was tun wir jetzt?«, fragte Frau Rimas.
    »Wir warten hier in aller Ruhe, bis wir gehen dürfen«, antwortete Herr Lukas und zog seine Uhr auf.
    Also warteten wir.
    »Wo ist Andrius?«, flüsterte Jonas.
    »Ich weiß nicht«, antwortete ich. Ich hatte gehört, wie der Glatzkopf das Gleiche gefragt hatte.
    Wir saßen im Büro der Kolchose auf dem Fußboden. Alle paar Minuten schlug oder trat Komorow jemanden, um uns einzuschüchtern und zur Unterschrift zu zwingen. Aber niemand unterschrieb. Ich zuckte bei jedem seiner Schritte zusammen. Schweiß lief über meinen Nacken und meinen Rücken. Ich hielt den Kopf gesenkt, damit Komorow mich nicht bemerkte. Wenn jemand einschlief, wurde er geschlagen.
    Stunden verstrichen. Wir saßen so brav da wie Schüler vor ihrem Direktor. Schließlich sprach Komorow mit Kretzky.
    »Der junge Wachmann soll weitermachen«, übersetzte Mutter.
    Komorow stampfte auf sie zu. Er packte sie beim Arm und spuckte ihr etwas ins Gesicht, das wie eine Auster aussah. Dann ging er.
    Mutter wischte rasch den Schleim ab, als würde sie sich nicht daran stören. Aber ich störte mich daran. Am liebsten hätte ich all meinen Hass im Mund gesammelt und Komorow ins Gesicht gespuckt.

37
    Bei Sonnenaufgang schickte man uns an die Arbeit. Wir schleppten uns müde, aber erleichtert zu unserer Hütte. Uljuschka war schon weg. Die Hütte stank nach faulen Eiern. Wir tranken Regenwasser und aßen einen von Mutter aufgesparten Brotkanten. Ich hatte mein Kleid zwar ordentlich geschrubbt, aber es war noch starr von Dreck. Meine Hände sahen aus, als wären sie von einem kleinen Tier zerbissen worden. Aus den Blasen lief gelber Eiter.
    Ich versuchte, die Wunden so gut es ging mit Regenwasser auszuwaschen. Es nützte nichts. Mutter meinte, ich bräuchte Hornhaut.
    »Gib einfach dein Bestes, mein Schatz«, sagte sie. »Tu so, als würdest du arbeiten, aber drück nicht so fest. Ich grabe für dich mit.« Wir verließen die Hütte, um für die Verteilung der Arbeit Aufstellung zu nehmen.
    Frau Rimas kam verängstigt auf uns zu. Erst da sah ich ihn – neben dem Büro der Kolchose hatte man einen Mann aufgespießt. Ein Pfahl ragte aus seiner Brust, auf der Erde lief sein Blut zu einer Pfütze zusammen, und seine Arme und Beine waren so schlaff wie die einer Marionette. Bussarde rissen an den Schusswunden, einer hackte in einer leeren Augenhöhle.
    »Wer ist das?«, fragte ich.
    Mutter keuchte auf und versuchte, mir die Augen zuzuhalten.
    »Er hat einen Brief geschrieben«, flüsterte Frau Rimas.
    Ich schob mich an Mutter vorbei und sah auf den Zettel mit handschriftlichen Notizen und einem sehr groben Lageplan, der neben dem Toten hing.
    »Er hat einen Brief an die Partisanen geschrieben – an die litauischen Freiheitskämpfer. Der NKWD hat ihn entdeckt«, sagte Frau Rimas.
    »Wer hat den Brief übersetzt?«, flüsterte Mutter. Frau Rimas zuckte mit den Schultern.
    Beim Gedanken an meine Zeichnungen sank mir das Herz in die Hose. Mir wurde schlecht, und ich musste mir eine Hand auf den Mund legen.
    Kretzky starrte mich an. Er hatte kein Auge zugetan, weil wir die Unterschrift verweigert hatten, und er war müde und zornig. Er trieb uns noch schneller als am Vortag zur Lichtung, brüllte herum und stieß uns in den Rücken.
    Wir kamen zu der tiefen Grube, die wir ausgehoben hatten. Ich schätzte, dass vier nebeneinanderliegende Männer hineinpassten. Kretzky befahl uns, daneben eine zweite Grube auszuheben. Der Tote ging mir nicht aus dem Sinn – sein Lageplan war nur eine grobe Skizze gewesen, aber die in meinem Koffer liegenden Zeichnungen waren lebensecht und schmerzerfüllt. Ich musste sie unbedingt verstecken.
    Ich hackte gähnend auf den Dreck ein. Mutter schlug vor, über Themen zu reden, die uns froh stimmten, weil die Zeit dann schneller

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