Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
Fräulein Grybas gewesen sein musste, Rüben für uns zu stehlen. Bewaffnete Wachmänner behielten uns im Blick. Auch wenn sie mit Rauchen und Witzeerzählen beschäftigt waren, war es nicht einfach, eine Rübe in der Unterwäsche verschwinden zu lassen, denn die Beule sah aus wie ein zusätzliches Gliedmaß.
An diesem Abend weigerte ich mich, Herrn Stalas etwas zu essen zu bringen. Ich redete mich mit Unwohlsein heraus. In Wahrheit hätte ich Andrius’ Anblick nicht ertragen. Er war ein Verräter. Er stopfte sich mit sowjetischem Essen voll, ließ sich von der Hand füttern, die uns jeden Tag zu erwürgen drohte.
»Ich bringe Herrn Stalas das Essen«, verkündete Jonas nach ein paar Tagen.
»Begleite ihn, Lina«, sagte Mutter. »Ich möchte nicht, dass er allein geht.«
Also ging ich mit Jonas zur Hütte des Glatzkopfs. Davor wartete Andrius.
»Hallo«, sagte er.
Ich überhörte ihn, ließ Jonas draußen stehen und brachte Herrn Stalas die Rüben. Er saß an eine Wand gelehnt.
»Da bist du ja wieder. Wo hast du gesteckt?«, fragte er.
Mir fiel auf, dass er Mutters Mantel in sein Strohlager gestopft hatte.
»Sind Sie enttäuscht, dass ich noch lebe?«, erwiderte ich und gab ihm die Rüben.
»Schlechte Laune, wie?«, sagte er.
»Sind Sie der Einzige, der schlecht gelaunt sein darf? Ich habe die Nase voll von den ständigen Schikanen des NKWD. Ich habe genug davon!«
»Pah. Ihnen ist es egal, ob wir unterschreiben oder nicht«, sagte der Glatzkopf. »Glaubst du wirklich, dass sie unsere Erlaubnis brauchen, um uns so zu behandeln? Stalin will unseren Willen brechen. Verstehst du? Und wenn wir irgendwelche sinnlosen Formulare unterschreiben, weiß er, dass wir klein beigegeben haben.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte ich.
Er winkte mich weg. »Dieser Zorn steht dir nicht«, sagte er. »Und jetzt verschwinde.«
Ich verließ die Hütte. »Komm, Jonas.«
»Warte«, flüsterte Jonas mir ins Ohr. »Er hat uns Salami mitgebracht.«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust.
»Vermutlich reagiert sie allergisch auf Freundlichkeit«, sagte Andrius.
»Das ist nicht das Problem. Woher hast du die Salami?«, fragte ich.
Andrius starrte mich an. »Lässt du uns kurz allein, Jonas?«, bat er.
»Nein, das wird er nicht tun. Mutter will nicht, dass er allein unterwegs ist. Nur darum bin ich mitgekommen«, sagte ich.
»Ist schon gut«, sagte Jonas und ging davon.
»So etwas isst du jetzt?«, fragte ich. »Sowjetische Salami?«
»Wenn ich sie bekommen kann«, erwiderte Andrius. Er holte eine Zigarette heraus und entzündete sie. Er wirkte kräftiger, seine Arme waren muskulöser. Er inhalierte und pustete den Rauch über unsere Köpfe.
»Sogar Zigaretten«, spottete ich. »Hast du in der Blockhütte der Sowjets auch ein gemütliches Bett?«
»Du hast ja keine Ahnung«, sagte er.
»Nein? Tja, du wirkst weder müde noch hungrig. Du wurdest nicht mitten in der Nacht in das Büro der Kolchose geschleift und zu fünfundzwanzig Jahren verurteilt. Erzählst du ihnen unsere Gespräche brühwarm weiter?«
»Glaubst du, ich würde spionieren?«
»Komorow hat Mutter aufgefordert, für ihn zu spionieren und ihm Bericht zu erstatten. Sie hat sich geweigert.«
»Du weißt nicht, worüber du redest«, sagte Andrius, dem die Zornesröte in die Wangen stieg.
»Ach nein?«
»Nein! Du hast nicht den blassesten Schimmer.«
»Deine Mutter muss nicht im Dreck arbeiten …«
»Stimmt. Und weißt du, warum nicht?«, fragte Andrius, der sich zu mir hinabbeugte. Auf seiner Schläfe schwoll eine Ader an, und ich spürte seinen Atem auf meiner Stirn.
»Ja, weil …«
»Weil sie gedroht haben, mich zu töten, wenn sie nicht mit ihnen schläft. Und wenn sie genug von ihr haben, können sie mich immer noch umbringen. Wie würdest du dich fühlen, Lina, wenn sich deine Mutter prostituieren müsste, um dein Leben zu retten?«
Mein Mund fiel auf.
Er redete sich in Rage. »Wie würde sich mein Vater fühlen, wenn er das wüsste? Was geht in meiner Mutter vor, wenn sie neben den Männern liegt, die ihn ermordet haben? Deine Mutter hat sich geweigert, für sie zu dolmetschen, ja, aber was würde sie wohl tun, wenn sie deinem Bruder ein Messer gegen den Hals drückten?«
»Andrius, ich …«
»Nein, du hast keine Ahnung. Du ahnst nicht, wie sehr ich mich dafür hasse, dass meine Mutter dies durchmachen muss. Ich überlege jeden Tag, mich umzubringen, damit sie wieder frei ist. Stattdessen nutzen wir unser Elend, um andere am Leben
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