Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
Gesicht erschien im Fenster.
»Komm«, sagte sie. »Wir setzen uns auf die Veranda.«
Ich schlich aus dem Schlafzimmer nach draußen. Joana lag schräg auf dem Schaukelstuhl und wippte hin und her. Ich setzte mich neben ihr auf einen Stuhl, zog die Knie an und schob die nackten Füße unter mein Nachthemd. Der Schaukelstuhl knarrte im regelmäßigen Takt, während Joana ins Dunkel starrte.
»Und? Wie war es?«, fragte ich.
»Er ist toll«, seufzte sie.
»Ja?«, fragte ich. »Ist er klug? Oder ist er einer dieser Idioten, die den ganzen Tag am Strand Bier trinken?«
»Oh, nein«, hauchte sie. »Er ist Student an der Universität, im ersten Semester. Er will Ingenieur werden.«
»Puh. Und er hat keine Freundin?«, fragte ich.
»Hör auf, nach einem Haar in der Suppe zu suchen, Lina.«
»Tue ich doch gar nicht. Ich frage ja nur«, sagte ich.
»Eines Tages wirst du auch ein Auge auf jemanden werfen, Lina, und ich kann nur hoffen, dass du nicht so mäkelig bist, wenn es passiert.«
»Ich bin nicht mäkelig«, erwiderte ich. »Ich möchte nur, dass er gut genug für dich ist.«
»Er hat einen jüngeren Bruder«, sagte Joana und grinste mich an.
»Ach ja?« Ich rümpfte die Nase.
»Siehst du? Du kennst ihn nicht und hast schon etwas zu mäkeln.«
»Ich mäkele nicht! Und wo ist sein jüngerer Bruder?«
»Er kommt nächste Woche hierher. Möchtest du ihn kennenlernen?«
»Weiß nicht. Vielleicht. Kommt darauf an, wie er ist«, sagte ich.
»Das wirst du erst wissen, wenn du ihm begegnest, oder?«, neckte mich Joana.
36
Wir schliefen, als es geschah. Ich hatte meine aufgeplatzten Blasen gesäubert und einen Brief an Joana begonnen, war aber vor Müdigkeit eingenickt. Brüllende NKWD-Männer rissen mich aus dem Schlaf.
»Was ist denn los, Mutter?«, fragte Jonas.
»Wir sollen sofort in das Büro der Kolchose.«
»Dawai!«, brüllte ein Mann mit Laterne ungeduldig. Einer zog seine Pistole.
» Da! Ja!«, sagte Mutter. »Beeilt euch, Kinder! Macht schon!« Wir krochen aus dem Stroh. Uljuschka drehte uns den Rücken zu. Ich sah zu meinem Koffer und war froh, dass ich die Zeichnungen versteckt hatte.
Man trieb auch die anderen aus den Hütten. Wir trabten im Gänsemarsch auf dem Trampelpfad zum Büro der Kolchose. Irgendwo hinter uns schrie der Glatzkopf.
Sie scheuchten uns in den Hauptraum der Blockhütte. Der grauhaarige Mann stand in einer Ecke und zog seine Uhr auf. Das kleine Mädchen mit der Puppe winkte mir so aufgeregt, als wäre ich ihre beste Freundin. Auf einer ihrer Wangen prangte ein großer blauer Fleck. Man befahl uns, bis zum Eintreffen der anderen still zu warten.
Die Wände der Blockhütte waren mit grauem Matsch verputzt. Am Kopfende des Raums stand ein wuchtiger Schreibtisch mit einem schwarzen Stuhl. Darüber hingen Porträts von Marx, Engels, Lenin und Stalin.
Iossif Wissarionowitsch Dschugaschwili. Er gab sich selbst den Namen Josef Stalin, »Der Stählerne«. Ich starrte das Bild an. Er schien meinen Blick zu erwidern. Seine rechte Augenbraue hatte er herausfordernd nach oben gezogen. Ich betrachtete seinen buschigen Schnurrbart und die dunklen, harten Augen. Auf diesem Porträt schien er zu grinsen. War das Absicht? Ich dachte an die Künstler, die Stalin malten. War es eine Ehre für sie, oder hatten sie Angst vor den Folgen, wenn ihm das Porträt nicht gefiel? Dieses Bild war jedenfalls seltsam.
Die Tür ging auf. Der Glatzkopf humpelte in den Raum.
»Und keiner von euch hat daran gedacht, mir zu helfen!«, schrie er.
Dann marschierte Komorow, der Kommandant, herein, gefolgt von mehreren NKWD-Leuten, alle mit Gewehr bewaffnet. Kretzky, der blonde Wachmann, trat als Letzter ein. Er trug einen Stapel Unterlagen. Woher kannte Andrius die Namen der Männer? Ich sah mich nach ihm und seiner Mutter um, aber sie waren nicht da.
Komorow begann zu reden. Alle drehten sich zu Mutter um. Der Kommandant hielt inne, sah sie an und zog eine Braue hoch, wobei er wie üblich den Zahnstocher im Mund umherwandern ließ.
Mutters Gesicht straffte sich. »Wir sind wegen Papierkram hier.«
»Papierkram?«, fragte Frau Rimas. »Um diese Zeit?«
Komorow sprach weiter. Kretzky hielt ein getipptes Formular hoch.
»Wir sollen alle dieses Formular unterschreiben«, erklärte Mutter.
»Und was ist das für ein Formular?«, wollten die Leute wissen.
»Es geht um dreierlei«, antwortete Mutter, die Komorow im Blick behielt. Er sprach weiter, und Mutter übersetzte zwischendurch für uns.
»Erstens stimmen wir durch
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