Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)
lächelnd.
»Ja, einfach nur müde«, wiederholte ich.
Jonas winkte uns zu seinem Strohlager, in dem er drei große Kartoffeln versteckt hatte. Er legte sich einen Finger auf die Lippen, damit wir nicht zu laut staunten. Er wollte nicht, dass Uljuschka die Kartoffeln als Miete beschlagnahmte.
»Woher hast du sie?«, flüsterte ich.
»Danke, mein Schatz!«, sagte Mutter. »Ich glaube, wir haben noch genug Regenwasser übrig. Ich koche uns eine leckere Kartoffelsuppe.« Sie holte rasch ihren Mantel aus dem Koffer. »Ich bin gleich zurück«, rief sie.
»Wohin willst du?«, fragte ich.
»Ich will Herrn Stalas etwas zu essen bringen«, sagte sie.
Ich schaute in meinen Koffer und dachte dabei an den Mann, den man neben dem Büro der Kolchose gepfählt hatte. Meine Zeichnungen waren noch da. Druckknöpfe hielten das Futter unten im Koffer. Ich riss alle Zeichnungen und Notizen aus dem Block, schob sie unter das Futter und verschloss die Knöpfe. Ich würde meine Botschaften an Papa verstecken, bis ich sie ihm schicken konnte.
Ich half Jonas, das Wasser aufzusetzen. Dann fiel mir ein, dass Fräulein Grybas uns heute keine Rüben gegeben hatte. Und Mutter hatte auch keine Kartoffel mitgenommen. Was brachte sie dem Glatzkopf?
Ich ging zur Hütte von Herrn Stalas. Als ich Mutter dort sah, ging ich in Deckung. Ihr Mantel fehlte, und sie redete mit Andrius. Ich konnte nicht hören, worüber sie sprachen. Andrius wirkte besorgt. Er reichte Mutter verstohlen ein Bündel. Sie klopfte ihm auf die Schulter, dann ging er. Ich verbarg mich hinter der Hütte, und sobald Mutter weg war, folgte ich Andrius.
Er entfernte sich längs der Hütten. Ich behielt ihn aus einigem Abstand im Auge. Er ging zum Rand des Lagers und von dort weiter zu einem großen Blockhaus. Er blieb stehen und schaute sich wachsam um. Ich huschte hinter einen Schuppen und sah, wie er das Gebäude durch den Hintereingang betrat. Ich schlich mich an und verbarg mich hinter einem Busch.
Von dort warf ich einen Blick durch ein Fenster: Mehrere NKWD-Männer saßen an einem Tisch. Ich sah wieder zum Hintereingang. Hatte Andrius ein NKWD-Gebäude betreten? Nein, das konnte nicht sein. Ich wollte ihm gerade folgen, als ich hinterm Fenster seine Mutter erblickte. Ihre Haare waren gewaschen und frisiert, ihre Kleider gebügelt. Sie war sogar geschminkt. Sie trug ein Tablett mit Gläsern, die sie lächelnd vor den NKWD-Männern auf den Tisch stellte.
Andrius und seine Mutter arbeiteten für die Sowjets.
39
Ich hätte an diesem Abend dankbar für die Kartoffelsuppe sein müssen, dachte aber nur an Andrius. Warum tat er das? Wie konnte er für diese Schurken arbeiten? Wohnte er in dem Blockhaus? Vielleicht hatte er in einem Bett gelegen, einem sowjetischen Bett, während ich in der Grube Todesängste ausgestanden hatte. Ich trat nach dem kratzigen Stroh, starrte die dunkle Decke an.
»Glaubst du, sie lassen uns heute Nacht schlafen, Mutter? Oder müssen wir wieder in das Büro, um die Formulare zu unterschreiben?«, fragte Jonas.
»Ich weiß nicht«, antwortete Mutter. Dann drehte sie sich zu mir um. »Andrius hat mir das leckere Brot gegeben, das wir zur Suppe gegessen haben. Ich finde es sehr mutig von ihm, dass er so viel für uns riskiert.«
»Ach ja? Das soll mutig sein?«
»Wie meinst du das?«, fragte Jonas. »Natürlich ist er mutig. Er besorgt uns fast täglich etwas zu essen.«
»Ja, er sieht tatsächlich aus, als wäre er immer pappsatt. Ich glaube, er hat sogar zugenommen«, erwiderte ich.
»Sei froh, dass nicht alle so viel Hunger haben wie wir«, sagte Mutter.
»Oh, ja, ich bin heilfroh, dass die NKWD-Leute nicht hungrig sind. Sonst wären sie zu schwach, um uns lebendig zu begraben«, sagte ich.
»Was?«, fragte Jonas.
Uljuschka schrie, wir sollten still sein.
»Pst, Lina. Wir sprechen jetzt unsere Gebete und danken für dieses köstliche Mahl. Lasst uns dafür beten, dass es eurem Vater auch so gut geht.«
Wir schliefen die ganze Nacht. Am nächsten Morgen erfuhr Mutter von Kretzky, dass wir mit den anderen Frauen auf den Rübenäckern arbeiten sollten. Ich war begeistert. Wir wateten gebückt durch das hohe grüne Blatt der Zuckerrüben und schwangen Hacken ohne Stiele. Fräulein Grybas klärte uns über das Arbeitstempo auf und erzählte, dass sich am ersten Tag jemand auf den Stiel gestützt habe, um sich Schweiß von der Stirn zu wischen. Daraufhin ließen die Sowjets die Stiele absägen. Mir wurde bewusst, wie schwierig es für
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