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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruta Sepetys
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an. Der NKWD nahm uns noch härter an die Kandare. Man reduzierte unsere Brotration, wenn wir nur stolperten. Mutter konnte meinen Unterarm mit Daumen und Mittelfinger umfassen. Meine Tränen waren versiegt. Wenn ich weinen wollte, brannten meine trockenen Augen nur.
    Schwer vorstellbar, dass irgendwo in Europa der Krieg tobte. Wir fochten unseren eigenen Krieg aus, warteten darauf, dass der NKWD weitere Opfer auswählte, uns in die nächstbeste Grube warf. Die Wachmänner traten und schlugen uns oft auf den Feldern. Eines Morgens ertappten sie einen alten Mann, der eine Rübe aß. Sie rissen ihm die Vorderzähne mit einer Zange aus. Wir mussten zusehen. Man weckte uns jede zweite Nacht, damit wir die Formulare unterschrieben, die uns zu fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilten. Wir gewöhnten uns daran, vor Komorows Schreibtisch zu sitzen und mit offenen Augen zu schlafen. Ich entkam dem NKWD, obwohl ich direkt vor seinen Schergen saß.
    Meine Kunstlehrerin hatte einmal gesagt, man müsse tief Luft holen und sich einen Ort vorstellen, und im nächsten Moment sei man dort, könne ihn sehen und spüren. Genau das tat ich, wenn wir schweigend im NKWD-Büro saßen. Ich klammerte mich an meine Träume. Mit der Mündung der Waffe vor der Nase schwelgte ich in Hoffnungen und gab mich meinen tiefsten Sehnsüchten hin. Komorow glaubte, er würde uns foltern. Doch wir flohen in eine innere Stille. Dort fanden wir Kraft.
    Nicht alle konnten stillsitzen. Manche wurden rastlos, waren erschöpft. Schließlich gaben einige auf.
    »Verräter!«, zischte Fräulein Grybas leise und schnalzte mit der Zunge. Man diskutierte über jene, die nachgaben. Als zum ersten Mal jemand unterschrieb, war ich außer mir vor Wut. Mutter sagte, die Leute müssten mir leidtun, denn man habe sie ihrer Identität beraubt. Doch sie taten mir nicht leid. Ich verstand sie nicht.
    Morgens, auf dem Weg zum Feld, wusste ich genau, wer als Nächstes unterschreiben würde. Ihre Gesichter erzählten von der Niederlage. Mutter wusste es auch. Sie sprach mit den Betreffenden, arbeitete auf dem Feld neben ihnen, versuchte, ihnen Mut zu machen. Manchmal fruchtete das. Oft nicht. Nachts zeichnete ich die Porträts jener, die unterschrieben hatten, und hielt in Worten fest, wie sie vom NKWD gebrochen worden waren.
    Die Schikanen des NKWD stärkten meinen Trotz. Warum sollte ich mich Leuten ergeben, die mir täglich ins Gesicht spuckten und mich quälten? Was würde mir noch bleiben, wenn ich mich unterwarf und dadurch meine Selbstachtung verlor? Aber was würde passieren, wenn wir die Einzigen waren, die noch nicht unterschrieben hatten?
    Der Glatzkopf klagte, dass wir niemandem mehr Glauben schenken könnten. Er warf jedem Spionage vor. Das gegenseitige Vertrauen begann zu bröckeln. Die Leute stellten gegenseitig ihre Motive in Frage und säten Zweifel. Ich dachte an Papa, der mir eingeschärft hatte, mit meinen Zeichnungen vorsichtig zu sein.
    Zwei Nächte später unterschrieb die mürrische Frau das Formular. Sie beugte sich über den Tisch. Der Füllfederhalter zitterte in ihrer knotigen Hand. Ich glaubte schon, sie würde sich noch anders besinnen, aber dann kritzelte sie plötzlich irgendetwas und warf den Stift weg. Sie hatte sich und ihre zwei kleinen Mädchen zu fünfundzwanzig Jahren Zwangsarbeit verdammt. Wir starrten sie an. Mutter biss auf ihre Unterlippe und senkte den Blick. Die mürrische Frau schrie, wir seien Idioten, denn wir müssten sowieso alle sterben, und bis dahin sollten wir uns wenigstens noch satt essen. Eine ihrer Töchter begann zu weinen. In dieser Nacht zeichnete ich ihr Gesicht. Ihre verzweifelt herabhängenden Mundwinkel. Ihre von Zorn und Verwirrung tief gefurchte Stirn.
    Mutter und Frau Rimas versuchten ständig, etwas über die Männer und den Krieg in Erfahrung zu bringen. Andrius gab Informationen an Jonas weiter. Er ignorierte mich. Mutter schrieb Briefe an Papa, obwohl sie nicht wusste, wo man sie abschicken konnte.
    »Wir müssen unbedingt in das Dorf, Elena«, sagte Frau Rimas eines Abends, als wir für unsere Ration anstanden. »Dann könnten wir unsere Briefe abschicken.«
    All jene, die ihr Urteil unterschrieben hatten, durften in das Dorf. Wir nicht.
    »Ja, wir müssen in das Dorf«, sagte ich, weil ich Papa eine Nachricht zukommen lassen wollte.
    »Schickt doch die Hure, diese Arvydas«, sagte der Glatzkopf. »Sie wird die Sache schon schaukeln. Sie spricht inzwischen sicher fließend Russisch.«
    »Unterstehen

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