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Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition)

Titel: Und in mir der unbesiegbare Sommer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruta Sepetys
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erschienen schwarze Stiefel dicht vor meinen Füßen. Ich sah auf. Kretzky. Er hatte einen Seitenscheitel, und seine blonden Haare fielen in die Stirn. Wie alt mochte er sein? Er wirkte nicht viel älter als Andrius.
    »Vilkas«, sagte er.
    Mutter hob den Kopf. Kretzky sprach so schnell, dass ich ihn nicht verstand. Mutter senkte den Blick, dann sah sie wieder Kretzky an. Sie rief über den Acker: »Sie suchen jemanden, der zeichnen kann!«
    Ich erstarrte. Sie hatten meine Zeichnungen entdeckt.
    »Kann hier jemand zeichnen?«, fragte Mutter, die ihre Augen beschattete und den Blick über den Acker gleiten ließ. Was tat Mutter da? Niemand reagierte.
    Kretzky sah mich an. Er verengte die Augen.
    »Sie bieten zwei Zigaretten, wenn jemand eine Karte und eine Fotografie kopiert …«
    »Ich tue es«, sagte ich kurz entschlossen und ließ die Hacke fallen.
    »Nein, Lina!«, sagte Mutter und ergriff meinen Arm.
    »Eine Karte, Mutter«, flüsterte ich. »Vielleicht verrät sie uns etwas über den Krieg oder die Männer. Außerdem muss ich dann nicht mehr auf dem Feld arbeiten.« Ich überlegte, Andrius eine Zigarette zu geben. Ich wollte mich bei ihm entschuldigen.
    »Ich komme mit«, sagte Mutter auf Russisch.
    »Njet!«, brüllte Kretzky. Er packte mich beim Arm, schrie »Dawai!« und zerrte mich vom Rübenacker. Sein Griff war so fest, dass mein Arm schmerzte. Sobald wir außer Sicht waren, ließ er mich los. Wir gingen schweigend zum Büro der Kolchose. Zwei NKWD-Männer erschienen auf dem Weg zwischen den Hütten. Einer sah uns und rief Kretzky etwas zu.
    Er schaute erst zu den Männern, dann zu mir und war auf einmal wie verwandelt. »Dawai!«, brüllte er und schlug mich ins Gesicht. Meine Wange brannte. Der unerwartete Schlag hatte mir den Hals verrenkt.
    Die beiden NKWD-Männer kamen neugierig näher. Kretzky beschimpfte mich als Faschistensau. Sie lachten. Einer bat um ein Streichholz. Kretzky zündete ihm die Zigarette an. Der eine NKWD-Mann trat dicht an mich heran. Er murmelte etwas auf Russisch, dann blies er mir Rauch ins Gesicht. Ich musste husten. Er bewegte die glühende Zigarettenspitze auf meine Wange zu. Der Spalt zwischen seinen Vorderzähnen sah aus, als hätte man ihn zugeteert. Seine Lippen waren rissig und verkrustet. Schließlich trat er zurück und musterte mich nickend von Kopf bis Fuß.
    Mein Herz raste. Kretzky lachte und klopfte dem Wachmann auf die Schulter. Der andere NKWD-Mann zog die Augenbrauen hoch und machte eine obszöne Geste. Dann ging er lachend mit seinem Freund davon. Meine Wangen brannten.
    Kretzky ließ die Schultern sinken. Er trat zurück und zündete sich eine Zigarette an. »Vilkas«, sagte er, schüttelte den Kopf und pustete Rauch aus einem Mundwinkel. Er lachte, packte mich beim Arm und zog mich zum Büro der Kolchose.
    Worauf hatte ich mich da eingelassen?

44
    Ich saß im Büro der Kolchose am Tisch. Ich schüttelte die Hände aus, damit sie nicht mehr so zitterten. Man legte links von mir eine Karte hin, rechts von mir ein Foto. Es war eine Karte Sibiriens, und das Foto zeigte eine Familie. Ein schwarzes Rechteck umrahmte den Kopf eines Mannes.
    Ein NKWD-Mann brachte Papier und eine Schachtel mit vielen Bleistiften, Buntstiften und Zeichenzubehör. Ich fuhr mit den Fingern über die Sachen. Am liebsten hätte ich meine eigenen Bilder damit gezeichnet. Kretzky zeigte auf die Karte.
    Ich kannte Landkarten aus der Schule, aber keine hatte mich so interessiert wie diese. Ich stellte erschüttert fest, wie riesig Sibirien war. Wo befanden wir uns auf dieser Karte? Und wo war Papa? Ich studierte die Legende. Kretzky ließ ungeduldig eine Faust auf den Tisch knallen.
    Während ich zeichnete, hielten sich mehrere Männer im Raum auf. Sie blätterten in Akten und zeigten auf bestimmte Orte auf der Karte. Die Akten enthielten Papiere und Fotos. Ich starrte die auf der Karte eingezeichneten Städte an und versuchte, sie mir einzuprägen. Später würde ich dann alles aus dem Gedächtnis kopieren.
    Die meisten Männer gingen, nachdem ich die Karte vollendet hatte. Während ich den Mann auf dem Foto zeichnete, las Kretzky in irgendwelchen Unterlagen und trank Kaffee. Ich schnupperte mit geschlossenen Augen. Der Kaffee duftete herrlich. Das Zimmer war so warm wie unsere Küche zu Hause. Als ich die Augen öffnete, starrte Kretzky mich an.
    Er stellte den Kaffeebecher auf den Tisch und betrachtete die Zeichnung. Auf dem Papier erwachte das Gesicht des Mannes allmählich zum Leben.

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